Spur 24 von Wolfgang Kaes
Nach einer wahren Begebenheit
Das kann die Welt einer praktizierenden Großstädterin und Karrieristin schon schwer erschüttern: zurück in das Elternhaus in einer piefigen Kleinstadt ziehen und einen minderwertigen Job annehmen zu müssen. Und das alles, weil Journalistin Ellen Rausch ihre Vorzeigekarriere vor die Wand gefahren hat. Statt sich weiterhin den großen Geschichten aus Politik und Wirtschaft widmen zu können, gilt ihre Aufmerksamkeit nun wieder den Schützenfesten und den Karnevalssitzungen in der Eifel. Doch dann landet auf ihrem Schreibtisch eine amtliche Bekanntmachung, nach der die seit 16 Jahren verschwundene Ursula Gersdorff für tot erklärt werden soll, sofern sie sich nicht binnen der nächsten sechs Wochen beim zuständigen Amtsgericht meldet. Ellen Rauschs journalistische Neugier ist geweckt. Schon zumal die meisten Einheimischen davon ausgehen, dass die Verschwundene gar nicht tot ist.
Was vor 16 Jahren geschah
16 Jahre ist es her, da Arzthelferin Ursula »Uschi« Gersdorff spurlos verschwand. Zu ihrer Arbeitsstelle, einer Reha-Klinik in der Nachbarstadt, war sie am Morgen des 21. März 1996 offenbar noch gefahren. Ihren Arbeitsplatz erreicht hatte sie hingegen nicht. Vier Tage lang hatte die zuständige Polizeibehörde ermittelt. Doch dann hatte ihr Ehemann, der niedergelassene Allgemeinmediziner und Dermatologe Dr. Veith Gersdorff verkündet, seine Frau habe sich bei ihm aus dem Ausland gemeldet. Mit einem belgischen Geschäftsmann sei sie durchgebrannt und wünsche fortan keinen Kontakt mehr zu ihrem Ex. Oder zu ihrer Herkunftsfamilie. Prompt stellte die Polizei ihre Ermittlungen ein. Schließlich müssen sich Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, für ihren gewählten Aufenthaltsort nicht rechtfertigen. Auch können sie sich von ihren Familien für immer verabschieden. Dabei liegt der Anteil derer, die sich länger als ein Jahr nicht mehr bei ihren Angehörigen melden, bei unter drei Prozent. In konkreten Zahlen sind dies etwa 3000 Menschen, die langfristig verschwunden bleiben. Zu denen zählen ungleich mehr Angehörige, die nicht wissen, ob sie trauern oder hoffen sollen, und fortan damit leben müssen, wegen ihrer immer gleichen Leidensgeschichte von Freunden und Bekannten eher gemieden zu werden. Um Ursula Gersdorff hat nur ihre Herkunftsfamilie Pohl 16 lange Jahre gebangt. Alle anderen Bewohner der fiktiven Kleinstadt Lärchtal standen einig auf Seiten des verlassenen Ehemannes. Der hatte seinerzeit nämlich schnell damit begonnen, allen zu verkünden, die Uschi habe ihn schon seit Jahren nach Strich und Faden betrogen. Und weil der Herr Doktor mal so ein richtig toller Fang ist, hat sich auch keiner gewundert, dass er nach kürzester Zeit bereits wieder verheiratet war.
Wenn Kleinstädter Euro-Zeichen in den Augen haben
Nach nunmehr 16 Jahren interessiert sich gleich gar niemand mehr für die alte Geschichte. Schließlich gibt es ganz andere, viel spannendere Entwicklungen im Ort: Zusammen mit einer Gruppe internationaler Investoren planen die Lärchtaler, ihre Region mittels eines großangelegten Golf-Paradieses samt Golf-Akademie und 5-Sterne-Hotel zu Ruhm und Reichtum zu führen. Bei der Planung mischt auch Veith Gersdorff – indessen zum dritten Mal verheiratet – kräftig mit. Mittlerweile macht er in Schönheit und wünscht sich für seine reichen Kundinnen eine adäquatere Unterbringung als die vorhandenen biederen Pensionen. Dem verlassenen Ehemann ist es deshalb wie allen anderen Lärchtalern ein Dorn im Auge, dass der Bruder der Verschollenen, Thomas Pohl, zusammen mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester nicht länger im Ungewissen leben will und sich deshalb auf das Verschollenheitsgesetz von 1939 beruft. Seinerzeit vorsorglich von den Nazis in Kraft gesetzt, besagt dieses heute noch gültige Gesetz, dass eine vermisste Person im Aufgebotsverfahren für tot erklärt werden kann, »wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, zehn Jahre […] verstrichen sind« (VerschG §3). Ellen Rausch kann dieses Vorgehen nach anfänglicher Irritation durchaus verstehen: 16 Jahre lang hat Uschis ältere Schwester die Abwesenheitspflege übernommen, galt also für die Behörden in Hinblick auf alle bürokratischen Akte rund um Ursula Gersdorff als Ansprechpartnerin. Daran ist sie psychisch erkrankt. Auch die 83-jährige Mutter, die all die Jahre jeden einzelnen Tag für die verschwundene Uschi eine Kerze angezündet hat, erträgt den Zustand zwischen Hoffen und Trauern nicht länger. So erhofft sich Thomas Pohl von seinem Vorgehen den längst überfälligen Schlussstrich – und findet in Ellen Rausch den ersten Menschen seit 16 Jahren, der sich für ihn und die Geschichte seiner vermissten Schwester interessiert. Der enge Kontakt, der sich zwischen der Journalistin und der Familie Pohl entwickelt, stellt das genaue Gegenteil dessen dar, was das Berufsethos vorgibt. Längst hat Ellen die nötige Distanz verloren. Gleichsam ist es aber gerade ihre emotionale Nähe, die sie über Monate hinweg antreibt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie letztlich die nötigen Informationen beschafft, die für die verspätete Aufklärung dieses dubiosen Vermisstenfalls sorgen.
Beste investigative Leistung
Spur 24 ist der siebte Kriminalroman von Wolfgang Kaes, dem Chefreporter des Bonner General-Anzeigers. Da ich fünf der vorangegangenen sechs Bücher gelesen habe und deshalb weiß, dass seine Romane immer auf wohlrecherchierten gesellschaftspolitischen Themen basieren, hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass auch Spur 24 keine aus der Luft gegriffene Handlung erzählt. Tatsächlich aber war mir der Zusammenhang in diesem Fall nicht klar. Wusste ich nämlich nicht, dass der Autor mit seinem aktuellen Werk eine Geschichte verarbeitet, die er als Journalist selbst erlebt hatte: Auch auf seinem Schreibtisch war 2012 eine amtliche Bekanntmachung gelandet, mit der die vor 16 Jahren in seiner Heimatstadt Mayen gebürtige und aus ihrem Wohnort Rheinbach verschwundene Gertrud Gabriele »Trudel« Ulmen aufgerufen wurde, sich bei den Behörden zu melden, andernfalls für tot erklärt zu werden. Verwundert, noch nie etwas von diesem Vermisstenfall gehört zu haben, verwunderte der Journalist in der Folge auch die zuständige Polizeibehörde, bei der sich auch keiner an entsprechende Ermittlungen erinnern konnte. Also ging Wolfgang Kaes der Sache nach und erhielt für seine monatelange Recherche-Arbeit neben anderen Auszeichnungen 2013 den Henri Nannen Preis für die beste investigative Leistung. Die Geschichte von Ursula Gersdorff gleicht nun in weiten Teilen dem Originalgeschehen, das sich (Spoiler-Warnung!) als GA-Spezial »Der Fall Trudel Ulmen« oder komprimiert bei Spiegel Online nachlesen lässt. In Details stimmen die Angaben exakt (das Datum des Verschwindens, der Beruf der Vermissten, der Vorname des Bruders etc.) oder zumindest sehr weitgehend überein (das fiktive Lärchtal statt des realen Rheinbach, statt mit dem portugiesischen Liebhaber nach Australien geht es mit dem belgischen nach Brasilien etc.). Einzig die Parallelhandlung rund um das Golf-Paradies scheint rein auf schriftstellerischer Freiheit zu basieren – zumindest konnte ich in den Zeitungsartikeln keinen Hinweis finden, dass im originalen Fall vergleichbare wirtschaftliche Interessen eine ähnliche Ablehnung der Bevölkerung gegen die Aufklärung des Falls bewirkt hätten.
Das Dilemma der wahren Begebenheit
Genau in diesem zweiten Handlungsstrang sehe ich aber auch die Schwäche der ansonsten so berührenden Erzählung. Schürte sie in mir nämlich eine Erwartung, die ich letztlich nicht erfüllt sah: Über weite Strecken glaubte ich, bei Spur 24 handele es sich um eine Art Whodunnit. Deshalb ging ich davon aus, dieser zusätzliche Handlungsstrang böte entweder Alternativen zu dem früh nahliegenden Täter oder liefere doch zumindest Bedeutsames zu den Geschehnissen von vor 16 Jahren. Denn auch wenn Wolfgang Kaes seine Heldin mehrfach betonen lässt, dass ihre Story nicht die der investitionswütigen Golf-Fans sei, tangiert doch so einiges Geschehen, das in diesem Zusammenhang steht, ihre Recherchen und durchdringt ihr Leben. Ich nahm also an, dass der Ausgang der Vermissten-Story weit mehr mit den Machenschaften der kommunalen Politiker und Gewerbetreibenden zu tun haben würde. Da das aber nicht der Fall ist, stellt sich mir die Frage nach dem Nutzen dieser Handlungserweiterung. Eine mögliche Antwort: Der Autor könnte auf die Idee gekommen sein, die Vermissten-Geschichte alleine reiche für einen Spannungsroman vielleicht nicht aus. Auf der Suche nach dem passenden aufpolsternden Material liegt es da für eine strukturschwache Region sicherlich sehr nahe, ein kollektives wirtschaftliches Interesse zu wählen, das Einzelschicksale über die Klinge springen lässt. Bitte nicht falsch verstehen: Dieser zusätzliche Handlungsstrang hat auf jeden Fall seinen Reiz und bietet einiges an Suspense. Wenn Ellen zum Beispiel den auf sie angesetzten Bösen unwissentlich mit in ihr Schlafzimmer nimmt. Das hat was. Hat aber meine Erwartung nur noch mehr verstärkt, dass die Auftraggeber des Betthupferls eine wesentlichere Rolle in Hinblick auf den Verbleib der Vermissten spielen müssen. Nun sind dies Gedanken einer, die Konstruktion liebt und zum Zeitpunkt des Lesens nicht wusste, dass wir uns hier im Bereich der wahren Begebenheit befinden. Steht im Vordergrund das Bedürfnis, sehr nah am Original zu bleiben, kann sich die Zusatzhandlung natürlich nicht so weit einmischen, wie sie es könnte, wäre alles erfunden. Ungeachtet dieses Dilemmas – aufpolstern ja, aber bitte nicht zu sehr modifizieren – handelt es sich bei Spur 24 um eine bemerkenswerte Geschichte, die berührt und einen nachhaltig ganz schön ins Grübeln bringen kann.