Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen
Die seltsamsten Orte der Religionen
Geheimtipp ist auch so eine Sache. Das sind diese Dinger, die man in Büchern mit 100 000er Auflage oder gleich im Internet findet. Aber natürlich geheim, ist klar. Johann Hinrich Claussen geht den aufrichtigen Weg, wenn er das Wort auf seinem Buchtitel vermeidet. Vielmehr heißt das Werk: Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen. Die seltsamsten Orte der Religionen. Okay, nicht geheim, aber lang. Was keineswegs so zu deuten ist, dass man sich durch das Buch quälen würde. Claussen ist ein versierter Erzähler, es macht Spaß, sich mit ihm von Ort zu Ort durch den Band zu bewegen. Das kann in beliebiger Folge geschehen, denn ein Kapitel baut nicht auf dem anderen auf. Eher rätselt man, wie sich die Abfolge überhaupt erklärt, ob auf den Auftakt in argentinischer Pampa je ein Ende folgen wird. Der Haptik nach ist der Exit natürlich schon beim Kauf des Buches greifbar: nur zwei Zentimeter dick und in einen Einband geschlagen, der sich auch für eine Pralinenschachtel eignen würde. Aber schnell versteht man, dass Phantasie und Erinnerungen über die zwei Zentimeter hinaus noch ins Endlose spinnen können. Dass einem Orte in den Sinn kommen, die sich durch ihre Mystik dem Rest der Welt entziehen. Dass eine Fata Morgana an der Autobahnraststätte warten und ein Zauberkult im Bayerndorf grassieren könnte. Damit ist der etwas ungewöhnliche Anstoß gegeben, das Buch um eigene Histörchen zu erweitern.
Vielleicht um dieses: Wolken von goldenem Staub gegen die untergehende Sonne, eingehüllt darin zwei klapperdürre Gestalten. Aus der Nähe entlarven sie sich als splitternackte Körper, doch Mund und Nase mit weißem Musselin verhüllt. Mit einem Reisigbesen kehren die beiden Asketen vor ihren Füßen den Wüstenboden. Es handelt sich um Digambara, Mönche einer strengen Richtung des Jainismus. Ihr Anliegen: kein Lebewesen töten, es auch nicht einatmen oder versehentlich zertreten.
Es ist ein Bild, das man nicht an einem festen Ort aufsuchen und auch nicht bestellen kann, heute schon gar nicht mehr, denn nach nunmehr 40 Jahren hat der gierige Rachen der Kulturnivellierung und des Tourismus so etwas verschluckt. Darauf weist auch Claussen hin: Sein Buch will kein Reiseführer sein und nicht an Orte locken, die unter eifrigen Besuchen nur zu Tode leiden würden. Das Lesen benennt der Autor als bildungsreichste und umweltschonendste Form des Reisens. Und richtig – man versinkt tatsächlich in diesen „seltsamsten Orten der Religionen“ und wird süchtig nach immer mehr Kuriosa und Faszinosa.
Ein wenig wundert es, dass Christentum und Europa viel Gewicht erhalten. Oder dass gleich zwei islamistische Terroranschläge beleuchtet werden, in deren Folge neue deutsche Gedenkorte entstanden. Da waren offenkundig Zufall und hautnahes Erleben die Ratgeber bei der Auswahl. Vielleicht würde man sich auch mal einen Blick in magisches Geschehen der fernen Vergangenheit wünschen. Als Beispiel nur die fast vergessenen Styliten der Ostkirche, die ihr gesamtes Leben auf dem Kapitell einer Säule zubrachten – und wegen dieses seltsamen Treibens immerhin von Mark Twain verwurstet wurden.
Aber da ist es wieder, dieses ungerechte Urteil, dass wichtige Aspekte vergessen wurden. Das stimmt so auch nicht. Zum einen ist ja gar nicht beabsichtigt, umfassend zu berichten, zum anderen werden beispielhafte Anstöße gegeben, die wieder und wieder dazu animieren, im eigenen Vorratsschrank nach den wundersamen Orten zu fahnden. Was wäre dort? Der Gomateshvara von Shravana Belgola, den Gläubige alle zwölf Jahre mit Kübeln von Milch übergießen. Der Christus der Tiefe an der ligurischen Küste, den nur Taucher besuchen können. Die Isla de las Muñecas in Mexiko, wo Hunderte verstümmelter Puppen zu einem Bild des Grauens versammelt sind. Und je mehr dieser Orte aufscheinen, desto näher rückt das Rätseln, wie tief die Religionen eigentlich unser Dasein durchdringen. Die Frage steht nach der Lektüre völlig unbeantwortet im Raum. Wogegen nichts einzuwenden ist.
Fischpott-Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar des Buches vom C. H. Beck Verlag erhalten.
Johann Hinrich Claussen: „Die seltsamsten Orte der Religionen. Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen“. München (C. H. Beck Verlag) 2020, 239 Seiten, 20 €