Altersmilde oder angepasst?
Bad Religion und der Weihnachtspunk
Ein Gastbeitrag von Nils.
In der langen Schlange einer Discounterkasse zu stehen bedeutete in den vergangenen Wochen zugleich ein intensives Studium verschiedenster Adventskalender, von Marzipankartoffeln, Weihnachtsmännern und anderem Kram und Zeug. Jedes Jahr aufs Neue Hohn, Spott und dann doch der Einkaufswagen. Mein persönliches Highlight dieser Tage: Der „Sexy Christmas-Girls“- Kalender für 1,99 € direkt neben Billg-Ü-Eiern und Snickers, mit leicht bekleideten Mädels die sich total auf Weihnachten freuen. Total! Dann und wann scheint all das allerdings nicht abschreckend genug zu sein. Die allgemeine Kritik an Gebimmsel und Gebammsel scheint allerdings doch so manch einen in seiner Kreativität anzufeuern und lässt großartige Ideen aufkeimen. In diesem Jahr so passiert bei Bad Religion.
Seit über 30 Jahren ist die Erwartungshaltung bei Neuveröffentlichung einer Bad Religion-Platte eigentlich immer dieselbe: aufregender Bad-Religion-Sound unterlegt lyrisch-philosophische und politisch reflektierte Texte von Greg Graffin, so dass Fan zu Hause gleichzeitig Pogotanzen und über gesellschaftspolitische Grundsatzprobleme nachdenken kann. Das eine Lied, welches seit inzwischen über 30 Jahren immer wieder neu interpretiert wird, ist Maßstab und Vorbild für Hännschen Müllers Kellerband.
Als ich gelesen habe, dass eines der Sinnbilder für Kontinuität und Standing der US-Punkszene ein Weihnachtsalbum aufnimmt, dachte ich zunächst an die körperlichen Qualen beim Hören von Roten-Rosen-Alben. Die Toten Hosen gut und schön, kann man von halten was man möchte, aber Lieder über besoffene Weihnachtsmänner sind ungefähr so wichtig und amüsant wie Lippenherpes.
Und jetzt das: „We know it’s ridiculously early for this but it’s what you’ve got to do if you want your album in stores in time for Christmas. Go figure.“ Dieser Newsletter-Aufruf am 30. Oktober in meinem Mail-Postfach ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Ridiculous early? Ridiculous überflüssig und so notwendig wie die nächste Runde Germanys next Topmodel!
Zur adventlichen Musik der Herren bleibt eigentlich kaum was zu sagen, doch zuvor muss erwähnt werden, dass dieses weihnachtliche Werk nicht die einzig kecke Idee der Crossbuster-Dudes bleiben sollte. So findet der geneigte Fan auf der Band-Homepage (für immer ins Netz gemeißelt): „Yes it’s true, we recorded a Christmas album. To celebrate,“ – Moment…celebrate??? – „we made this advent calendar“, weil es die ja nicht schon zu Hauf an der Discounterkasse gibt, „where we’ll be giving away “presents” every day as we count down to Christmas.“
Vielen Dank! Da freuen wir uns drüber. Und doch: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen: Die eine hält in derber Liebeslust sich an den alten Platten, mit klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Weihnachtsirrsinn zu den Gefilden offensichtlich weniger wahnsinnigeren Menschen ab.
Nimmt man den musikalischen Aspekt dieses adventlichen Ergusses unter die Lupe, erwarten wir – wie zu Beginn erwähnt – Bad Religion und tatsächlich bekommen wir Bad Religion. Allerdings mit einem öd-faden Beigeschmack. Ich brauch diese weihnachtliche Einstimmung nicht. Vielleicht kommen wir hier und da auf einem verregneten (alternativen?) Weihnachtsmarkt in den Genuss, doch wenn selbst dies nicht geschieht frag ich mich wieder und wieder: Warum musste es soweit kommen?
Einzig positiv bleibt zu erwähnen, dass das Christmas-Album einen guten Zweck unterstützt. „In order to be as Christ like as possible this holiday season we’ll be contributing 20% of proceeds from Christmas Songs to SNAP, Survivors Network of those Abused by Priests.“
Doch auch das ist mit 20% in meinen Augen kein überzeugender Coup. Um es abschließend mit Bad Religion selbst zu halten: „And I don’t want it! The things you’re offering me!“
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