Am liebsten mag ich Monster von Emil Ferris
Holen wir uns den Freak!
Der Mob setzt sich in Bewegung… und Karen erwacht nicht zum ersten Mal aus dem Albtraum, dessen vorprogrammiertes Ende ihr eigener Tod wäre. Doch Karen Reyes zu töten bedarf es besonderer Vorkehrungen, denn in den letzten Minuten der ihr bevorstehenden Ermordung hat sie ihre ganze monströse Pracht entfaltet.
Von ebensolcher Kraft ist die Graphic Novel der Zeichnerin und Schreiberin Emil Ferris, die anders als ihre Figur Karen nach ihrem Debüt uneingeschränkt bejubelt und zu Recht auf Händen getragen wird.
Emil Ferris zeichnet ein Buch, das aus der Seelentiefe des Monsters auf die Welt blickt und mit diesem Stilmittel ein Potpourri an Themen an unseren Horizont stellt, welches bei einigen für Platznot sorgt.
Ich habe kurz vor Weihnachten die deutschsprachige Ausgabe der Grafic Novel gelesen. Das reicht jedoch bei weitem nicht, dieses Meisterwerk zu erfassen und würdig zu rezensieren. So hinke ich den zahlreichen Besprechungen des brillanten, bereits 2017 im Amerikanischen erschienenen Buches hinterher und spare es mir, überall nachzulesende Erkenntnisse zu referieren.
Ein Gastbeitrag von Chris Strauss.
Tipps für Illustratoren und die es werden wollen
Woher kenne ich die Frau auf dem Cover, noch bevor ich den Comic-Wälzer aufgeschlagen habe? Es ist Jan Vermeers1 Mädchen mit dem Perlenohrring in besorgter Miene vor dem House of Usher.
Unter anderen treffen wir auf Jacob Jordaens2, Henry Füssli 3 , Théodore Géricault 4 und Georges Seurat5. Die
Liste der großartigen Maler ist lang. Selbst nicht in der Erzählung abgebildete Bilder wirken in die
Geschichte ein – Peter Blume, The Rock6, Paul Delvaux7, Emils Kopien alter Meisterwerke sind eine Verbeugung vor den versierten Menschenzeichnern aller Epochen und für mich ein klarer Aufruf in stickiger Museumsluft von ihnen zu lernen.
Das könnte auch der wohlgemeinte Ratschlag eines verstaubten Dozenten mit der Vorliebe für längst Vergangenes sein, würden nicht direkt daneben mit aller Wucht die Cover der Horrormagazine DREAD und GHASTLY einschlagen. Zwar sind sie auch Relikte vergangener Tage,
geben meinem Blick auf die alten Meister aber eine völlig neue Richtung.
Ganz nebenher bekommt die Leserin eine Einführung in Bildbetrachtung, Komposition und Analyse und praktische Tipps zum illustrativen Handwerk.
Unser Lehrer ist Karens Bruder Deeze, der uns neben initiatorischen Techniken wie dem Malen von Rote Beete-Bildern und dem Üben von Druckschrift in die Idee der Vesica Piscis einführt (siehe Bild).
Ein Buch über die Auferstehung
Der Autorin 10jähriges Alter Ego Karen Reyes erzählt auf 414 dicht gestalteten Ringbuchseiten aus der Stimmung des Chicago der 1960er Jahre und in der dunklen Farbe ihres Coming of Age. Die Außenseiterin mit der besonderen Vorliebe für Horror in jedem Format verfolgt eine besondere Strategie, um sich und ihresgleichen der Bedrohung durch Verfolgung und Gewalt zu entziehen. Die Verwandlung durch den Biss eines Monsters ist ihr Schlüssel zur eigenen überlegenen Kraft und Unsterblichkeit.
Emil Ferris poetischer Umgang mit dem eigenen realen Schicksal – die Künstlerin wird im Alter von 40 durch den Biss einer Nilmücke in den Rollstuhl verbannt. Sie ist von der Hüfte ab gelähmt und kann ihre Hand nicht mehr zum Zeichnen einsetzen – gibt durch die gut erzählte Parabel den Blick auf die Kehrseite der Katastrophe frei. Ferris‘ Debüt als 55jährige Frau hat den ganzen Wumm eines Wiedergeburtsszenarios.
Das Anch-Kreuz in der Fellmaserung der Katze, der Hase am Sterbebett der Mutter, der Skarabäus als Perlenohrring – es wimmelt von Symbolen des alles überschreibenden Themas.
Maria Magdalena als Zeugin der Auferstehung Jesu, Götter und Untote aus diversen Religionen, Mythen und B-Movies, erzählen von Metamorphose und ewigem Leben.
Und ist letztendlich die, im redundant wiederholten Art Spiegelman Zitat, das ich als wörtliche Rede habe nicht finden können gelobte, grundlegende Veränderung von Rhythmus und Syntax des Comic eigentlich nichts anderes als die Vesica Piscis als Grundlage der besonderen Erzähltechnik? Der Riesensack an Weisheit, der nicht maßlos über uns ausgeschüttet wird, sondern streng strukturiert episodische, sich überschneidende Kreise zieht, um das Erzählte in die ornamentale Form der Blume des Lebens zu gießen.
Meine ganze Begeisterung gilt der trainierten Erzählakrobatik der Autorin, die bestehende Werte und Muster wiederholt umstößt und die Welt neu ordnet. My Favorite Thing is Monsters ist ein berauschender Mix aus Trash und Hochkultur, der die Genres nicht gegeneinander ausspielt, sondern in der kollektiven Suppe unseres Bildgedächtnisses mal ordentlich umrührt. Gespickt mit neuen Bezügen, Anspielungen, versteckten Hinweisen und kunstgeschichtlichen Diskursen weckt die Autorin meinen Appetit in die hinterste Ecke zu sehen – weit über das Buch hinaus.
Feministische Literatur?
Was macht das offensichtlich Weibliche dieses dichtgedrängten Erzählbandes eigentlich aus? Mir ist schon beim ersten vorsichtigen Blättern klar, dass dieser Emil kein männlicher Autor ist.
Ein Werwolf im geblümten Nachthemd, der aufgebrachte Lynch-Mob, der zur traditionellen Mistgabel ein Arsenal von Bügeleisen, Nudelholz und Pfannenwender mitführt. Eine Galerie von einflussreichen Frauen und von Manifestationen weiblichen Intellekts zieht sich durch die Seiten.
Das Mädchen Karen trifft Kate Warne, frühe Feministin und erste Detektivin der USA, u.a. Maria Magdalena und auch die de’ Medici. Durchwirkt wird die Reihe von exponierten Busenwundern der Horror-Cover, die die dem Genre zugrundeliegenden Opfererotik illustrieren.
Wie des Mädchens Anka überlebensstrategisches Geschick und Karens Fähigkeit der Tarnung und Subversion hat die Autorin das abgefahrene Talent brisante Themen so zu verkleiden, dass sie auch für Desinteressierte zugänglich werden.
Nicht auf feministische Themen reduziert, sondern durchwoben von menschenrechtlichen Prinzipien schafft der Erzählband eine Stimmung, die mit überholten Geschlechterrollen aufräumt.
Über das Schweigen und den Mob
In Karens Welt sind die Monster die wahren Verfolgten und die Autorin zeigt mit gnadenlos ausgestrecktem Finger auf das in jedem von uns schlummernde Biest. Nach und nach betreten die wirklichen Ungeheuer angeführt von Kindesmissbrauch und Prostitution, Nazi-Deutschland und katholischer Kirche die Bühne und führen uns durch eine Welt von im Alltag schwelender, ewig verschwiegener Grausamkeit.
My Favorite Thing is Monsters ist ein Ausflug in den Spießer-Kosmos und dessen eingeübte und bewährte Ausgrenzungsstrategien. In den Regelbüchern des Glaubens und Aberglaubens verankert agiert hier kollektiver Eifer gehorsam gegen das Sonderliche. Der Zweck heiligt die Mittel.
Symbiose zwischen Wort und Bild
Während wir uns durch die plakativ gestalteten Seiten von Sex und Liebe, unheilbarer Krebserkrankung, Huren, Bürgerrechtsbewegung, Familiengeheimnissen, Mobbing und Coming out blättern, übersehen wir eventuell die schriftstellerische Leistung der Schreibkurs-Absolventin des School of the Art Institute of Chicago. Ihre synästhetische Erzählweise ist so ausgefeilt, dass sie Bilder kreiert, die ohne Wörter nicht zu zeichnen wären (siehe folgende Seite).
Ihre Lektionen in Bildbetrachtung lassen uns nicht vor dem Bild stehen, sondern laden uns ein, es schamlos auf uns selbst zu beziehen, in seinen Kosmos einzutauchen und aus ihm heraus die Welt zu betrachten. Ein Ausflug, der beinahe therapeutische Züge hat.
An der Stelle muss ich Torsten Hempelts brillante Übersetzung ins Deutsche erwähnen. Da meine Auseinandersetzung mit der Grafic Novel fast obsessive Züge erreicht hat, lese ich mittlerweile die amerikanische Fassung. Ich bin geflasht von Sätzen wie: “UND SO SOLLEN ANDERE LEUTE ANDERE HEILIGE VEREHREN, ABER ICH WENDE MICH ‚WER-TRAUENS-WOLF AN CHRISTOPHERUS.“ 8
Ich weiß nicht, ob Emil Ferris Einfluss auf die Wahl des Papiers und die Bindung des Wälzers hatte. Zuzutrauen wäre ihr das! Es ist eine taktile Freude das Buch anzufassen und die Seiten zu blättern. Ein bisschen wundere ich mich über den Hype, den das Zeichnen mit Kugelschreibern auf liniertem Ringbuchpapier auslöst. Spätestens seit Jeff Kinney’s bereits 2004 erschienenem Diary of a Wimpy
Kid ist der Kniff zur Erzeugung von Authentizität salonfähig. Auch wenn Greg und Karens Welten kaum Berührungspunkte haben, sind ihre Werkzeuge zur Dokumentation eines wirklich anstrengenden Lebensabschnittes fast identisch.9
Mehr Gedanken habe ich mir über die obsessive Stricheltechnik mit dem Werkzeug Kugelschreiber gemacht. Und bin zu dem Schluss gekommen, dass wahrscheinlich nicht die Kugelschreiber von Sparkasse oder OBI zum Einsatz gekommen sind. Ich spüre die Schmerzen in Fingern, Hand und Schulter, wenn ich nur daran denke 400+ Ringbuchseiten mit diesem Werkzeug zu gestalten. Die Zeichnerin Ferris bezeichnet den Kugelschreiber als ihre Geißel10
Am liebsten mag ich Monster: Ein Fazit
Die bisher in der Comic-Szene völlig unbekannte Emil Ferris hatte als 55jährige Illustratorin ihr Grafic-Novel Debüt. Mittlerweile hat sie den Ignatz Award, Division Award, zwei Eisner Awards, den Lambda Literary Award, Lind Ward Prize, Hugo Award, das Fauve d’Or d’Angoulême, den Max und Moritz-Preis, Rudolph-Dirks-Award abgesahnt und war immerhin für den Bram Stoker Award nominiert.
Es ist jetzt Jahre her, dass ich den blutsaugenden Job der Illustratorin hinter mir gelassen habe.
Meine Quintessenz nach Befreiung war, dass diese Art der Arbeit nur für Schulabgänger mit durch gönnerhafte Eltern befeuerter Selbstüberschätzung taugt. Vielleicht ist die Low- bis No BudgetNummer noch ein paar Jahre danach durch gut verdienende Ehepartner finanzierbar. Und wenn man genug Freunde hat, bekommt man hoffentlich die notwendige Anerkennung für diese irrsinnige Arbeit. Ansonsten betreibt man das Business neben grausigen Nebenjobs und macht die Nächte vor den Deadlines am Rechner durch.
Und jetzt, wo ich das dicke weiche Buch zur Seite gelegt habe, geht ein Beben durch meine Illustratorinnen-Seele. Ich sehe, wie die Frustration in kleinen trockenen Bröckchen von meiner Haut platzt und sich die ersten zarten Haare meines prächtigen Pelzes aufstellen. Vielleicht warte ich den zweiten Band noch ab, um mich einzureihen in das aufstehende Heer der Verdammten und Versehrten, und den Unsichtbaren in Hausfrauen-und Nebenjob-Verstecken Mut zu machen endlich in den Dörfern ihr Unwesen zu treiben.
Emil Ferris: „Am liebsten mag ich Monster“. Stuttgart (Panini Verlags GmbH) 2018, 420 Seiten, 39,- €
Disclaimer: Fischpott hat ein Rezensionsexemplar der deutschsprachigen Übersetzung des Buches vom Verlag erhalten.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Vermeer#/media/Datei:Johannes_Vermeer_(1632-1675)– _The_Girl_With_The_Pearl_Earring(1665).jpg ↩
- https://www.artic.edu/artworks/111613/the-temptation-of-themagdalene ↩
- https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_F%C3%BCssli#/media/Datei:John_Henry_Fuseli_-
The_Nightmare.JPG ↩ - https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Flo %C3%9F_der_Medusa#/media/Datei:JEAN_LOUIS_TH%C3%89ODORE_G%C3%89RICAULT–
La_Balsa_de_la_Medusa(Museo_del_Louvre,_1818-19).jpg ↩ -
https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Seurat#/media/Datei:A_Sunday_on_La_Grande_Jatte,_Georges_Seurat,_1884.jpg ↩ - https://www.artic.edu/artworks/56682/the-rock ↩
- https://www.artic.edu/collection?artist_ids=Paul%20Delvaux ↩
- Im Original: SO OTHER PEOPLE PETITION OTHER SAINTS, BUT ST.CHRISTOPHER IS MY MAIN (WOLF)MAN … ↩
- https://www.funbrain.com/books/diary-of-a-wimpy-kid/page/1. ↩
- Interview: https://www.youtube.com/watch?v=uL7LMFR5Kvw ↩
Kommentare
Am liebsten mag ich Monster von Emil Ferris — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>