Die Ärzte: Hell
Hell begonnen, dunkel aufgehört
Die Ärzte liefern mit Hell ihr insgesamt 13. Studioalbum ab und brechen damit ihr Schweigen nach auch, ihrem mehr oder weniger unumstrittenen Flop vor acht Jahren. Ob wir den Titel nun als deutsches Adjektiv oder englisches Substantiv interpretieren, ist unerheblich: Musikalisch ist sowohl Helles als auch Hölle vertreten … Letzteres vor allem in der zweiten Albumhälfte.
Was ist ein fairer Maßstab für ein Ärztealbum? Ist es Westerland, also 80er-Sound mit Gutelaune-Texten? Ist es die Planet Punk, schnelle Rocksongs mit Bananen- und Popelhumor? Sind es Geräusch und Jazz ist anders, als wir uns von Mittvierzigern die Welt erklären lassen durften? Oder sind wir gar so fies, sie an der 13 zu messen, welches für nicht Wenige das beste Ärztealbum ist?
Seien wir fair und fangen klein an: Auf der auch war Vieles vom Schlechtesten, was die Ärzte jemals fabriziert haben („Tamagotchi“, „Das finde ich gut“, „Freundschaft ist Kunst“) und leider nichts vom Besten. Wenn das der Maßstab sein soll, haben sich die Ärzte definitiv gesteigert. Kein Song ist richtig schlecht, einige sind sehr gut, und einige sind spitze. Zentraler Unterschied gegenüber auch, und damit zentrales Erfolgsrezept: Das Songwriting wurde zum Großteil Farin Urlaub überlassen. Alle guten und sehr guten Lieder sind von ihm. Ganze elf von 18 Texten entstammen seiner Feder.
Wenn die 13 oder die Spendierhosen die Messlatte sein sollen: Autsch, keine Chance. Das liegt vor allem daran, dass Bela mittlerweile seiner Fähigkeiten als Storyteller verlustig gegangen ist; schenkte er uns seinerzeit Susi Spakowski, die Banane, den Grafen und den Rock’n’Roll-Übermenschen, belehrt er uns seit 2007 vermehrt mit Tipps zur allgemeinen Lebensführung: 2007 im „Lied vom Scheitern“, 2012 in „Das darfst Du“ und jetzt eben in „Achtung: Bielefeld“, dem immerhin besten Song in dieser Reihe. Der Mann hat mit „Scharnow“ einen ganzen Roman geschrieben, warum erzählt er uns nicht weiterhin in seinen Songs irgendwelche lustigen Geschichten? Aber auch Farin hat an dieser Front nachgelassen: Auf Jazz ist anders nahm er uns noch mit auf eine Art tragische Wildwestreise in „Nur einen Kuss“, und seitdem ist in dieser Hinsicht nicht viel passiert. Anstatt einzigartiger Geschichten werden abstrakte Themen besungen, die zudem noch dem Zeitgeist verhaftet sind und in zehn Jahren niemanden mehr reizen werden. Das hat mit den Post-9/11-Songs wie „Deine Schuld“ oder „Nicht Allein“ begonnen, sich in „Allein“ und „M&F“ fortgesetzt und gipfelt nun im furchtbaren „Woodburger“. Aber dazu später mehr.
Hälfte I: Hell
Steigen wir doch jetzt endlich mit dem Album ein. E.V.J.M.F. ist ein von Rod programmiertes und von Farin gesungenes Trap-Intro und funktioniert als Parodie sowie als Hommage zugleich. „Plan B“ ist ein musikalisches erneuertes Super-Drei, das hier allerdings eher ein Super-Eins ist und unprätenziös über Farins Leben daherträllert. Unspektakulär, aber tanz- und gesangstauglich – und beides kam auf den letzten Alben zu kurz. „Achtung: Bielefeld“ ist ein Loblied auf die Langeweile mit unerwarteter ernster Wendung zum Schluss und vielleicht Belas bestes Lied auf dem Album.
Es folgen „Warum spricht niemand über Gitarristen“ – rhythmisch ansprechend und textlich halbwegs unterhaltsam – sowie „Morgens Pauken“, der ersten Singleauskopplung des Albums. Anfangs war ich skeptisch, mittlerweile habe ich es aber oft genug gehört, um es zu mögen, wenngleich die ständig wiederkehrende und nie wechselnde Melodie irgendwann nervt.
Schwupps, folgt ein Schwall an tanzbaren Songs: „Das letzte Lied des Sommers“ wurde schon in verschiedenen Rezensionen als Westerland-Eigenplagiat verunglimpft, für mich hat das Lied aber sowohl musikalisch als auch textlich seine eigenständige Berechtigung; Sonne, Sand und Meer vs. Diesel, Dreck und Teer? Jeder darf mitraten, wofür sich Farin Urlaub entscheidet. „Der Clown aus dem Hospiz“ ist textlich eine erneute Belehrung Belas über die Essenz von Kunst, aber man kann es immerhin mitsingen und auch ein bisschen drüber nachdenken, mindestens aber funktioniert es als Überleitung von einem guten Song des Albums zu einem der besten:
Das nun folgende „Ich, am Strand“ gehört zum Unauffälligsten und Stärksten, was Farin Urlaub jemals rausgehauen hat, nicht vergleichbar, aber doch in einer Reihe mit dem unvergleichlichen „Mach die Augen zu“. Textlich ist es eine Reise durch ein Fotoalbum, welches anfangs noch autobiographisch anmutet, sich aber durch seine tragische Wendung und den dann doch optimistischen Schluss weit vom Leben des Autors entfernt. Wer hätte auch ernsthaft erwartet, dass Farin Urlaub sein Leben auf einem Album offenlegt? Dennoch bleibt der Eindruck, dass der Text teilbiographisch sein könnte und Farin nur offenlässt, wo der Bruch stattfindet: Oder ist es eine Biographie, wie sie doch hätte laufen können? In jedem Fall ist nicht nur der Text so einfach wie genial, sondern auch die Musik: Die elegante Verbindung von spanischen Gitarren und Bläsern kennt man eher von Farins Soloalben und bringt sogar die Tanzaversen zum Zappeln, mich eingeschlossen. Dieses Meisterwerk ist natürlich viel zu kurz geraten und mit 4:22 doch das längste Stück des ganzen Albums. Das bereits bekannte „True Romance“ mit seinem etwas nichtssagenden Text, aber der mehr als singbaren Melodie und der genialen Promo1 bildet dann eher eine kleine akustische Zugabe.
Hälfte II: Dunkel
So, war Ihnen das zuviel des Lobes? Kein Problem, damit ist jetzt Schluss. Exakt ab der Hälfte kippt das Album und weiß bis auf eine Ausnahme nicht mehr annähernd an die Qualität der ersten neun Songs heranzukommen. Es folgen zum einen unvermeidlichen unwitzigen Witze-Songs: „Einmal ein Bier“ erzählt einen frühen Morgen aus der Sicht eines … Bieres. Ist ganz originell, besticht aber vor allem durch sehr abgehackte Reime und lädt nicht gerade zum Mitsingen ein. „Thor“ geht gut los – und in der B-Note gibt es auch Sympathiepunkte für die Selbstironie des Alternden — verfällt dann aber in einen komplett eintönigen Refrain („Chris Hemsworth hat meinen Körper geklaut“) und ist auch nur genau einmal lustig.
Noch schlechter sind jedoch die „politischen“ Songs. Ich möchte hier ja eigentlich nicht spoilern, aber verzeihen Sie mir bitte, dass ich hier vorwegnehme, dass Die Ärzte gegen Alühüte, Plastikmüll und die AfD sind. Wobei ausgerechnet Rods Plastiksong „Polyester“ noch der stärkste von ihnen ist, man kann sich vor allem den Sound und Gesang ganz gut anhören. Bei „wer verliert, hat schon verloren“ verstehe ich auch nach viermaligem Hören nicht, was Farin mir sagen will. Dass man für Ideale eintreten sollte? Sorry, „Kopfüber in die Hölle“ wird als Song sowieso nie übertroffen werden, „Deine Schuld“ war schon (textlich) nicht besonders gelungen und hier finden wir nun die letzte unnötige Episode dieser Gattung. „Liebe gegen Rechts“ kommt zwar durchaus schnell aus der Hüfte, weiß sich über die Strophen aber nicht zu steigern und hinterlässt den Geschmack von verschenktem Potenzial. Auch „Alle auf Brille“ als unerwarteter OiPunk-Song mit herrlich falschem Gesang von Bela sticht ein wenig zwischen den erwartbaren Songs hervor, überzeugt aber auch eher als Gag denn als Lied. Und besonders enttäuschend finde ich den Abschlusssong „Woodburger“; da erzählen diese Männer in all ihren Promointerviews, dass man einer idiotischen Naziminderheit nicht zuviel Bühne bieten sollte, und dann widmen sie der AfD das Ende ihres ersten Albums seit acht Jahren? Und als wäre das noch nicht unverständlich genug, noch dazu mit einem solch langweiligen Lied? „Woodburger“ hat, abgesehen vom durchaus lustigen Titel, keine interessante Melodie, keine guten Reime und liefert als einzige Pointe, dass Farin Urlaub in die AfD eintreten und dann schwul werden will, um deren Mitglieder zu schocken. Wirklich? Das wird im Jahr 2020 doch selbst AfD-Anhängern nicht mehr als ein müdes Lächeln entlocken.2
Die Ärzte bescheren uns ein Leben vor dem Tod
So, jetzt habe ich viel über die zweite Hälfte des Albums gemeckert. Deshalb muss es fast so wirken, als gefalle mir das Album nicht. Das liegt aber nur daran, dass ich nicht mit so schlechter Note enden wollte und mir mein Lob auf den vorletzten Track, das „Leben vor dem Tod“, aufgespart habe. Ein trauriges/schwermütiges Liebeslied von Farin Urlaub, ohne Schlagzeug, ohne Krach und vor allem ohne jegliche Ironie. Man kann es vielleicht noch mit „Das Traurigste“ vom Farin Urlaub Racing Team vergleichen, nur in noch besser. Und in viel zu kurz (4 Minuten). Mehr gibt es gar nicht zu sagen, außer: Hören. Und seien Sie gewarnt: Der kalte Schauer über den Rücken ist vorprogrammiert. Und wenn nicht, haben Sie vermutlich keinen Puls. Nach „Ich, am Strand“ das zweite helle Meisterwerk.
Hell mag das 13. Studioalbum der Ärzte sein, aber es ist keine neue 13. Das muss es aber auch nicht. Ich würde es am ehesten mit Geräusch vergleichen; etwas zu viele Lückenfüller, etwas zu viele Oberlehrersongs – aber wenn man sich auf die guten Lieder konzentriert und nicht vergisst, dass mit „Abschied“ und „Rückkehr“ schon exzellent vorgelegt wurde, ist das neue Album eine Bereicherung für jeden Fan. Und es kommt ja noch mehr…?3
- https://www.youtube.com/watch?v=o3SSHtJFY3U ↩
- Und ist nicht nur homophob, sondern angesichts einer homosexuellen AfD-Spitzenpolitikerin auch verdammt naiv. (Anmerkung des Chefredakteurs Fabian.) ↩
- https://www.jumpradio.de/thema/die-aerzte-album-hell-interview-farin-singtrueromance-100.html ↩