Locked in von Holly Seddon
Gefangen in der eigenen Welt
Es gibt Bücher, die lassen sich problemlos in wenigen Worten zusammenfassen. Im ungünstigsten Fall mag dabei der Eindruck entstehen: Kennste die Zusammenfassung, kennste das ganze Buch. Nun ist das mit Erzählabsichten aber so eine Sache. Nicht jedem Autoren geht es um Ereignisvielfalt mit trickreichen Wendungen. Im Fall von Locked in von Holly Seddon liegt der Fokus auf vertiefender Erkenntnis. Mit ihrem Erstling, der bereits in sechs Sprachen vorliegt, wagt die britische Journalistin einen Blick »under cover of darkness« und beweist, wie spannend etwas an sich wenig Ereignisreiches sein kann.
Alkoholsucht trifft auf Locked-in-Syndrom
Alex Dale ist wegen ihrer schweren Alkoholsucht nur stundenweise in der Lage, als freiberufliche Journalistin zu arbeiten. Nun knüpft sie ihre Hoffnungen für das eigene Schicksal an die Klärung des Falls Amy Stevenson. Die mittlerweile 30-jährige wurde vor 15 Jahren schwer misshandelt und liegt seither auf einer Wachkomastation. Alex ahnt, dass die junge Amy ein Geheimnis hatte und dass dieses Geheimnis zum Täter führt, der seinerzeit unerkannt blieb. Gelingt es Alex, dieses Geheimnis zu lüften, könnte diese Story ihre Karriere wiederbeleben. Das ist die Geschichte, und das ist sie auch nach der Lektüre von gut 400 Seiten. Sicherlich, am Ende kennen wir den Täter. Aber jetzt kommt es richtig böse: Den habe ich mir bereits zur Hälfte erschließen können. Trotzdem hat mir Locked in ausgesprochen gut gefallen und mich mächtig in seinen Bann gezogen.
Holly Seddon erzählt ihren düsteren Roman an drei Figuren orientiert, deren Erzählstränge alternierend ein Gesamtbild zeichnen. Neben Alex und Amy erhält auch Amys damaliger Freund Jacob seine Erzählanteile. Dabei springt die britische Schriftstellerin zudem durch die Zeiten, verbindet Vergangenes mit Gegenwärtigem und wagt schließlich auch den Blick in die innere Welt einer jungen Frau, die sich im Zustand des Locked-in-Syndroms befindet. Das gelingt ihr so meisterlich, dass es mir bald schwerfiel, das Buch überhaupt noch aus der Hand zu legen.
Locked in: Alex
Jede Figur hat so ihre Geheimnisse und fühlt sich gefangen in der eigenen Welt. Alex ist dabei noch diejenige, die wegen ihrer unter dem Einfluss des Alkohols unkontrollierten Aktionen am wenigsten auf Privatsphäre hoffen darf. Einst war sie eine erfolgreiche Kolumnistin, hatte über ihr Leben mit ihrer demenzkranken Mutter geschrieben. Als sie dann aber von der Boulevardpresse dabei ertappt wird, wie sie stockbesoffen in der Küche eines Pubs mit dem Tellerwäscher vögelt, ist es schnell vorbei mit der Karriere. Zu viel ist auf einmal passiert: »Frage: Was haben meine Mutter, mein Baby und mein Mann gemeinsam? Antwort: Ich habe sie alle verloren.« Derartige Texte mag ihre Redaktion nicht mehr annehmen, schon gar nicht zwölf Stunden nach Abgabeschluss.
Aktuell tanzt Alex auf dem Vulkan. Einzig in den Vormittagsstunden ist sie in der Lage, ihrem unbändigen Durst zu widerstehen. Ihren Alkoholkonsum geht sie dann fast wissenschaftlich an: Punkt zwölf trinkt sie aus Gründen der Gesundheit erst einmal viel Wasser, um sich dann mit Wein so komplett abzuschießen, dass sie am nächsten Morgen kaum noch Erinnerungen an den Vortag hat. Zur morgendlichen Routine gehört es nicht nur, die Bettwäsche zu wechseln – sie nässt sich regelmäßig nachts ein –, sondern auch ihre E-Mail- und SMS-Aktivitäten zu checken. Wer weiß, wem sie mal wieder was geschrieben hat. Oder welchem Kaufrausch sie sich hingegeben hat. Einzig in den Vormittagsstunden ist sie in der Lage, einem weitgehend normalen Leben nachzugehen. Gesundheitsthemen sind dabei ihr Gebiet. Und die führen sie auf die Wachkomastation.
Locked in: Jacob
Jacob verbringt sehr viel Zeit auf der Wachkomastation. Als Ehrenamtlicher hat er sich gemeldet, bereit, einmal pro Woche mit allen dortigen Patienten Zeit zu verbringen. Dass sein Interesse allein Amy gilt, darf aber keiner wissen. Denn das ist sein Geheimnis. 15-jährig war er der erste Freund der gleichaltrigen Amy, die eines Tages verschwand und dann Tage später mehr tot als lebendig aufgefunden wurde. Natürlich geriet auch er seinerzeit in den Fokus der Ermittlung, doch schnell war klar, dass er nun wahrlich nichts mit allem zu tun hatte. Für sein Trauma mochte sich über die Jahre hinweg keiner so recht interessieren. Endlich mal loslassen, das Geschehene vergessen – diesen Rat kann er einfach nicht befolgen. Jahrelang ist er der Einzige, der noch für Amy da ist. Ihre Mutter hat sich nach der Tat suizidiert, ihr Stiefvater hat längst ein neues Leben begonnen. Und so besucht Jacob Amy auch noch, als er selbst längst verheiratet und mit seiner ahnungslosen wie argwöhnischen Frau in freudiger Erwartung ist. Bald droht auch Jacob wegen eines Geheimnisses alles zu verlieren.
Locked in: Amy
Als Alex sich Amy erstmals nähert, scheint die junge Frau, die Alex als Mädchen zwar nicht persönlich gekannt, von deren Geschichte sie aber immer gewusst hatte, auf ihre Ansprache zu reagieren. Ein Auge zuckt. Die Nase kräuselt sich. Sie seufzt. Sie öffnet ihren Mund und schließt ihn wieder, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Eine eindeutige Reaktion vermag aber auch Alex nicht auszumachen.
Zu diesem Zeitpunkt widmet sich Amys Erzählstrang noch der Vergangenheit. Und so erfahren wir von ihrem Geheimnis: einem erwachsenen Mann, der sich für sie interessiert. Für den sie sich interessiert, obwohl sie mit Jacob zusammen ist. Doch Jacob ist ein braver Junge, der keinerlei Anstalten macht, über harmloses Knutschen hinauszugehen. Die junge Amy aber realisiert erstmals, wie ein einziger Kuss sie nächtelang wachhalten kann. Sie möchte mehr von ihrem Geheimnis, dessentwegen sie alles verlieren und das sie in den Zustand der ewig 15-jährigen bannen wird.
Später wechselt der Erzählstrang in die Perspektive der in sich Eingesperrten, die auf alles um sich herum innerlich reagiert, vieles nicht versteht, die sich ihre eigenen Erklärungen bastelt. Ihre Mama würde sie so gerne mal wieder sehen, sich mit den Freundinnen austauschen. Selbst ihren oft so gestrengen Stiefvater vermisst sie. Umso froher ist sie über die Besuche von Alex und Jacob, die manchmal so komische Sachen sagen, die sie nicht einordnen kann. Beharrlich geht sie davon aus, eigentlich nur einen Sommer zu verschlafen. Immer noch 15 Jahre alt zu sein, ihr junges Leben zu genießen und von einer Karriere als Musikjournalistin zu träumen.
Das Locked-in-Syndrom
Strenggenommen handelt es sich bei Amys Locked-in-Syndrom (laut ICD 10 ein Sonstiges Lähmungssyndrom) um keine Form des Wachkomas (eigentlich: Apallisches Syndrom, im ICD 10 unter den Sonstigen Krankheiten des Gehirns einsortiert), nur ist dieses Syndrom dann doch so selten, dass entsprechende Patienten auf derselben Station wie die Wachkomatösen liegen. Eines haben sie auf jeden Fall gemeinsam: Sie können sich nicht auf herkömmliche Weise mitteilen. Und genau hier liegt das Problem: »…sobald jemand die Fähigkeit verliert, auf die Art und Weise zu kommunizieren, die wir verstehen, ist er für uns verloren«, erklärt der Stationsarzt Alex beim Interview. Zwar gibt es ein Verfahren, das sogenannte Brain-Computer-Interface, das eine einfache Kommunikation ermöglicht: Unter der Vorgabe, sich für ein Ja Tennisspielen vorzustellen und für ein Nein ein entspanntes Wannenbad, können Ärzte die Antwort anhand der Hirnaktivität ermitteln. Doch als Amy diesem Test unterzogen wurde, reagierte sie physiologisch bedenklich. Also ließen die Ärzte von weiteren Tests ab.
Mein Fazit
Holly Seddon bedient sich in ihrer Darstellung einer in sich eingesperrten jungen Frau eines ganz feinen Händchens für die Tragik dieser Patientengruppe. Einfühlsam lässt sie Amy erzählen, ohne jemals kitschig zu werden, und vermittelt damit so viel Hoffnung, ohne den Bogen zu überspannen. Ihr Blick auf die Alkoholsucht ist demgegenüber derart schonungslos und lieferte mir – bei aller bereits vorhandenen Kenntnis um diese Krankheit – eine bisher so nicht gekannte schmerzliche Tiefe. Einzig Jacob ist mir zwischenzeitlich ein wenig fremd geblieben, zu leicht könnte er sich seinen Stress ersparen, würde er einfach nur mal den Mund aufmachen. Aber dann realisierte ich: Genau darum geht es der Autorin, um diese innewohnende Tragik von Söhnen bereits schweigender Väter. Männer, die niemals gelernt haben, sich zu artikulieren, und damit ihrer sprechenden Mitwelt immer ein bisschen fremd bleiben.
Mit ihrem Debütroman hat die Autorin mich jedenfalls so sehr mitgenommen und berührt, dass ich mich jetzt schon auf ihr nächstes Werk freue. Was auch immer da under cover of darkness entstehen mag.