Wie der Wind sich hebt
Mehr als Schall und Rauch
Als engagierte Verfasserin informierter Reviews auf Fischpott gehe ich nicht bloß so weit, mir das entsprechende Objekt persönlich, und möglichst nicht nur von außen anzusehen, sondern bemühe mich, dessen Essenz dem Leser textuell greifbar zu machen. Ein erfolgversprechender Weg, dies hinzubekommen, ist, sich sowohl mental, als auch in Echt, in die Welt der Geschichte zu stürzen. Oder in diesem Fall: aufzusteigen. In dem japanischen Animationsfilm Wie der Wind sich hebt geht’s um Flugzeuge – und Wind. Und wo sitze ich gerade, keine Kosten und Mühen scheuend, mit Kuli und Notizblock? In einem Flugzeug. Sacre bleu! Method Writing, könnte man sagen. Fifty Shades of Grey reviewe ich nicht!
Doch ganz im Ernst: auch ohne sich kontemplativ in einen Airbus zu setzen, scheint es ein leichtes, die Essenz des aktuellen und angeblich letzten (blabla…) Meisterwerks des Ghibli Animations-Altmeisters Hayao Miyazaki zu vermitteln. Diesmal allerdings weht, verpackt in gewohnter Ghibliqualität, inhaltlich ein anderer Wind, als man es vom Altmeister gewohnt sein mag. Nach langer Historie des fantastischen Kinos zeigt Miyazaki nun, zum vermeintlichen Schluss, dass er auch zauberhafte Filme ohne Zauberei machen kann.
Kurze Einführung gefällig?
Hayao Miyazaki, Gründungsmitglied des japanischen Animationsstudios Ghibli hat anno dazumal mit Mein Nachbar Totoro sein erstes Meisterstück abgeliefert. Manch einer mag behaupten, dass dieses bis heute unerreicht geblieben ist. Es folgten weitere Knaller, jeder nächste den vorigen vom Thron der Besucherrekorde in japanischen Kinos stoßend (Beispiele wären Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise ins Zauberland – sogar mit Oscar, Das wandelnde Schoss oder Ponyo).
Heute spricht man gerne – und zwar nicht ausschließlich nur die Japanfreaks – von zwei Lagern der animierten Familienunterhaltung auf internationaler Ebene: Disney und Ghibli. Ein jeder läuft in Japan ins Kino für den neuen Ghiblifilm – jung und alt, arm und reich, dick und doof. Und die braven ostasiatischen Kinderchen sitzen geduldig die oft über zwei Stunden Animationsepos aus, auch ohne Gesang und Tanz. Was erstaunlich ist. Denn da geht es häufig nicht um Gut und Böse, es gibt keine Erklärbären, dafür aber jede Menge Unerklärliches und an Langsamkeit steht Miyazaki dann und wann dem Kurosawa in nichts nach. Wie halten die japanischen Kinder das aus? – wurde Miyazaki mal in einem Interview gefragt. Miyazaki verstand die Frage nicht. Die halten das halt aus!
Berufswunsch Flugzeugbauer
So ist auch Wie der Wind sich hebt erfolgreichster Film in Japan 2013. Und der ist sicher nichts für Kinder! Wäre Miyazaki nicht bereits mindestens 100 Jahre alt und würde sein voriges Werk Ponyo nicht eklatant in die Gegenrichtung weisen (es geht um ein niedliches kleines Goldfischmädchen), würde man sagen wollen: Der Hayao ist erwachsen geworden. Keine Rußmännchen, keine Katzenbusse, kein verzauberter Prinz aus dem Nachbarland und kein schwarzer Schleim!
Der Film folgt dem Leben von Jiro Horikoshi, lose basierend auf dem realen gleichnamigen Flugzeugingenieur für Mitsubishi, angefangen in dessen Kindheit in den 1920er Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Der kurzsichtige Jiro (im Original gesprochen von Neon Genesis Evangelion-Regisseur Hideaki Anno) träumt vom Fliegen – und zwar wortwörtlich. Seine schlechten Augen verbauen dem Jungen den Weg, Pilot zu werden, doch in seinen Träumen konstruiert und steuert er Fantasiemaschinen und unterhält sich wiederholt mit dem italienischen Ingenieur und Visionär Giovanni Battista Caproni. Dieser outet sich in Jiros Träumen ebenfalls als Träumer: Caproni will gigantische Passagierflugzeuge bauen und gibt zu Jiros Erleichterung zu: Er kann selbst auch nicht fliegen. Die Liebe zur Maschine und zur Konstruktion sei es, die ihn leite. Jene Traumversion des Caproni wird zu Jiros Gallionsfigur.
Es kommt wie es kommen muss: Jiro wird Flugzeugkonstrukteur und baut – na, was? – Kriegsflugzeuge. Sein größter Erfolg im Film und in Echt: Die Mitsubishi A6M ‚Zero‘.
Jiros Determiniertheit, das perfekte Flugzeug zu bauen, seine Bewunderung für das deutsche Ingenieurswesen und den immensen Vorsprung deutscher Flugzeugbauer weckt seine Ambition und lässt den liebenswerten Nerd zunehmend zähneknirschend die Tatsache beiseite schieben, dass er Waffen baut. Die innere Zerrissenheit Jiros durchzieht die gesamt Erzählung. Auch ganz ohne Flugzeugwissen oder -interesse spürt man die fiebrige Begeisterung Jiros. Und wenn sich schließlich Jiros Zero elegant in die Lüfte hebt, wird dies auch dem pazifistischsten Maschinenhasser ein Lächeln auf die Lippen zaubern (kein Spoiler – historischer Fakt: Das Ding flog, nicht nur im Film).
Le vent se lève
Und hier versteckt sich auch das gewohnt zauberhafte Element aus Miyazakis Feder: Das Unbelebte wird belebt, ganz gleich ob Autos, Flugzeuge, Züge, Naturphänomene. Das große Erdbeben von 1923 wirkt wie ein tiefer Seufzer der Kantoregion als Reaktion auf soziales Elend und Armut, Wirtschaftskrise und den bevorstehenden Krieg, Flugzeuge keuchen und spucken, Motoren atmen, der Wind heult. Miyazaki verzichtet auf Geisterwesen und schafft ein zartes, langsamen und einfühlsames Portrait einer Zeit des Um- und Aufbruchs – mit garantiert bitterem Ausgang. Der Krieg fungiert als Bruch und Endpunkt und wird ausgespart. Gezeigt werden nur die voraus geworfenen Schatten.
Doch auch ohne die geballte Ladung Tod und Elend jagt einem die vor die Wand gefahrene Ambition Jiros Schauer über den Rücken. Der Krieg steht unvermeidbar vor der Tür, Naoko, Jiros zweite große Liebe neben Flugzeugen, lebt für den Traum des Mannes, doch leidet an Tuberkulose – wie gut kann das alles schon ausgehen!?
Die grässlichen Umstände und die grässliche Zeit kommen dennoch nahezu federleicht daher – wie vom Wind getragen. Und so zieht sich das von Paul Valery geborgte Motto durch den Film: „Le vent se lève, il faut tenter de vivre“ (der Wind hebt an, man muss versuchen zu leben). Genau dies geschieht im Film. Der Krieg kündigt sich an wie ein Sturm, doch das Leben geht weiter. Authentisch, könnte man meinen. Und gewagt: denn die Moralkeule wird trotz Kriegsthema und Setting im ‚Schurkenstaat‘ nicht geschwungen. Der neuste Film von Miyazaki ist ohne Zweifel politischer denn je. Die Hauptfiguren selbst sind jedoch nicht dafür da, um Meinungen zu vermitteln. Mit der aus Thomas Manns Zauberberg stibitzten Nebenfigur Hans Castorp wird eine Reflektorfigur eingeführt, die auf unheimliche aber auch informative Art und Weise für Jiro (und somit für den Zuschauer) die politischen Geschehnisse aufbereitet und deutet.
Les cigarettes
Jiro selbst ist nicht politisch. Er will nicht vordergründig die Welt verbessern, Jiro will gute Flugzeuge bauen. Und Jiro, wie auch jeder andere im Film, abgesehen von der tuberkulosekranken Naoko, will rauchen. Wo kann man bitte noch qualmende Zeichentrickfiguren im Familienkino sehen?! Tatsächlich kam der Film dafür bereits dezent in die Schusslinie. Aber auch hier war offensichtlich Authentizität wichtiger. Und Hayao als Kettenraucher kam sicher (zurecht) nicht in den Sinn, dass ein paar rauchende Kerle in den 1920ern und 30ern die denkunfähige jugendliche Mischpoke von heute dazu verführen könnte, sich ‚cool‘ eine Kippe anzustecken (und Jagdflugzeuge zu bauen). Hut ab also für den Mut zur kontroversen Thematik, fürs Zigarettenqualmen, für nicht ständiges Betonen der Schrecklichkeit des Kriegs und für vernünftige deutsche Sprecher in der Originalversion für die deutschen Rollen im Film (u.a. Dr. Junkers himself – ohne japanischen Akzent).
Was muss noch gesagt werden? Visuell hochkarätig, tolle, ‚europäisch‘ klingende Akkordeon-Musik, hervorragende Soundeffekte. Die deutsche Synchronisation wirkt leider etwas hölzern und abgelesen, durchlöchert ein bisschen den französelnden Charme des Films, und kommt bei weitem nicht an die (starbesetzte) von Prinzessin Mononoke oder Chihiro heran. Wer also Untertitel lesen mag, oder Japanisch spricht, ist besser bedient mit der Originalversion. Bleibt nur abzuwarten, ob es sich tatsächlich – wiedereinmal – um Hayao Miyazakis definitiv letzten Film handelt. Die Leier kennen wir ja bereits seit Chihiro. Glücklicherweise funktionieren seine Filme immer noch und der Punkt, an dem sich das Publikum im Nachhinein einen würdevollen Abtritt wünscht, ist noch nicht erreicht. Ganz im Gegenteil: Mit Wie der Wind sich hebt schlägt Hayao Miyazaki in gewohnter Qualität neue Töne an, die tatsächlich ausgesprochen neugierig auf mehr machen, aber ebenso gut als unerwarteter Tusch zum Ende taugen.
Wie der Wind sich hebt
Japan, 2013
Regie: Hayao Miyazaki
Blu Ray (deutsches Release) freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Universum Films.
Ausstattung:
deutscher und japanischer Ton, deutsche UT, Trailer, Pressekonferenz, Storyboards
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