Zum guten Ende: Alchemie
Endlich rundet sich die im Jahr 2007 triumphal mit den »Glasbüchern der Traumfresser« gestartete Steampunk-Trilogie von Gordon Dahlquist. Wer, wie der Rezensent, den schier endlosen Cliffhanger des zweiten Bandes (»Das Dunkelbuch« von 2008) endlich bewältigt hatte, musste sich vier Jahre gedulden, um aus der amerikanischen Heimat des Autoren die Nachricht zu erhalten, dass der dritte Band mit der versprochene Abrundung und Auflösung endlich fertig sei. Seit Dezember 2013 liegt nun die deutsche Übersetzung unter dem Titel »Die Alchemie des Bösen« (englisch The Chemickal Marriage) vor – veröffentlicht, wie die beiden Bände zuvor, im Genre-Verlag blanvalet – und wirft für den Rezensenten letztlich nur noch eine Frage auf: Aber hat sich denn das ganze Warten gelohnt?
Ein Gastbeitrag von Matthias Rürup, Wuppertaler Lyriker und Erziehungswissenschaftler. Vorsicht, Spoiler.
Wenn man die drei Teile der nun vollendete Trilogie jeweils in der deutschen Erstauflage nebeneinanderlegt, so spricht allein die äußere Erscheinung für einen erheblichen Abstieg zumindest an Umsatzhoffnung des Verlags. Der erste Band »Die Glasbücher der Traumfresser« kam in einem extravaganten Schuber daher, der die zehn Einzelkapitel des Buches jeweils separat gebunden und herausnehmbar enthielt. Band 2 »Das Dunkelbuch« wurde zuallererst als fadengebundenes Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen veröffentlicht, was zwar nicht mehr so ungewöhnlich, aber zumindest immer noch liebhabermäßig edel zu nennen ist. Der nun vorliegende dritte Teil »Die Alchemie des Bösen« wird dagegen schon in der Erstauflage als Paperback mit Klebebindung im Taschenbuchformat verkauft. Als kleine – verbliebene – Besonderheit gegenüber sonstigen Massen- und Billigbüchern findet sich lediglich ein ausklappbarer Papierumschlag, wobei der so vergrößerte Platz auf den vorderen und hinteren Umschlagseiten des Buches etwas uninspiriert dazu genutzt wird, das Buchcover (das Ziffernblatt einer Uhr mit einem einzelnen Zeiger und je einem Auge oben und unten, eingebaut in eine technische Apparatur) jeweils noch einmal zu reproduzieren. In anderen Fantasy-Büchern findet sich bei dieser Gelegenheit in der Regel eine Landkarte zur groben Orientierung über die vielfältigen Handlungsorte, etwas was auch bei Dahlquists Trilogie sicherlich sinnvoll gewesen wäre – so intensiv wie die Protagonisten durch ein irgendwie viktorianisches London beziehungsweise Englands Süden düsen.
Für Sammler, die ihre Lieblingsbücher gerne nebeneinander im Bücherregal platzieren, ist diese Uneinheitlichkeit der Bücher und Buchformate sicherlich misslich; hinzu kommt noch, dass auch die graphische Gestaltung und bildliche Komposition der Cover sich vom jeweiligen Artwork bis zur gewählten Schriftart von Teil 1 bis 3 erheblich unterscheiden. Man könnte fast meinen, der Verlag sei der Ansicht man könne die Einzelbände der Trilogie ganz unabhängig voneinander lesen und einschätzen – eine Vermutung, die der Rezensent ganz und gar nicht zu teilen vermag (eingeschränkt natürlich durch den Umstand, dass er die Einzelbände jeweils zum Erscheinen und in der chronologisch richtigen Reihenfolge verschlungen hat, und insofern keine Vorstellung davon hat, wie es wäre dem Band 3 ohne Kenntnis der vorherigen zu begegnen).
Zumindest wenn man dem Vorwort der nun erschienenen »Alchemie des Bösen« folgt, scheint auch Gordon Dahlquist davon auszugehen, dass man „das hier vorliegende Buch [als] ein eigenständiges Werk“ betrachten könne (S. 5), die erinnernd-orientierenden Hinweise, was in den zwei Vorgängerbänden beziehungsweise etwa 1.600 Vorgänger-Seiten der Trilogie passiert ist, beschränken sich auf zwei Seiten und eine kurze Namensnennung der wesentlichen Akteure. Vom mystisch-verrätselten ersten Band »Die Glasbücher der Traumfresser« scheint dabei lediglich die Schlussszene im abstürzenden Luftschiff erwähnenswert, bei der die erste Reihe der Bösewichte (insbesondere der diabolisch-geniale Kopf der Sekte des blauen Glases, der Comte d’Orkancz) scheinbar getötet wurde. Vom zweiten Teil – dem Dunkelbuch – wird ebenfalls „nur“ das Finale erwähnt: die Einflößung des in einem Glasbuch geretteten Bewusstseins des Comte d’Orkancz in den Körper des industriellen Mitverschwörers Robert Vandaariff durch die gerissen-durchtriebene Contessa di Lacquer-Sforza – und die scheinbare Tötung der kleinen Riege der guten Gegenspieler: des edlen Meisterverbrechers Kardinal Chang, des ausländischen Spions Stabsarzt Svenson und der westindischen Plantagenerbin Celeste Temple. Nicht erinnert wird so in dem Vorwort an die eigentliche Seele, die Mystik der Geschichte: a) die Geschichte des blauen oder auch, wie in Band 2 zu erfahren war, manchmal auch orangen Glases, das Erinnerungen von Menschen aus deren Bewusstsein herauszuziehen und für ein zukünftiges scheinreales Nacherleben beim Betrachten beziehungsweise Berühren der Gläser zu speichern vermag; b) die verbrecherische Nutzung der suchterzeugenden Eigenschaften des Glases durch einen Geheimbund von Weltherrschafts-Verschwörern und schließlich c) die krankmachenden-seuchenartig infizierenden Gefahren des Umgangs mit blauem Glas, das dazu neigt, menschliche Körper selbst zu Glas werden zu lassen. Unerwähnt bleibt so auch der metaphysische rote Faden der Geschichte: die Konfrontation einer viktorianisch-provinziellen Lustfeindlichkeit beziehungsweise Keuschheit in der Figur der Celeste Temple (beziehungsweise des preussisch-prinzipienorientiert-verklemmten Stabsarzt Svenson oder des für-Liebe-viel-zu-hässlichen-gefühlsscheuen Kardinal Chang) mit der großstädtisch-aristokratisch-großbürgerlich-künstlerischen Verdorbenheit und Ausschweifung in jeglicher Hinsicht – vor allem aber der sexuellen. Bei allen – negativ-verbrecherischen – Verwendungsmöglichkeiten des blauen Glases dient es den bösen zynisch-aufgeklärten Protogonisten der Geschichte vor allem als Speicherort für „Pornofilmchen“. Während im ersten Band die Lustfeindlichkeit, leicht fasziniert-angeekelt, über die Dekadenz triumphiert, infizieren sich im Mittelband der Trilogie die Verteidiger des Guten und Schönen mit der Verderbnis – insbesondere im Kontakt mit der Contessa di Lacquer-Sforza, die in der Geschichte den erotisch-vulgäre Archetyp der verführerischen Vollweibs (der Schlange) verkörpert. Vor allem Celeste Temple verliert ihre Unschuld, aber nicht faktisch-penetrierend, sondern „lediglich“ kognitiv: indem sie durch die Contessa dazu gezwungen wird, die Lebenserinnerungen des Comte d’Orkancz in sich aufzunehmen und so nun in Kopf und Gefühl zugleich jungfräulich-unberührt-unbefahren, wie sie selbst, und super-geil und viel-gefickt zu sein wie der promiskuitiv-bisexuelle Comte. Solcherart verletzt und vergiftet, endet der zweite Band der Trilogie für Celeste Temple als Niederlage; der Kardinal (ihre männliche Gegenfigur und potentieller Partner im Fall eines Happy Ends) gilt als tot und dem tödlich verwundeten Stabsarzt wurde gerade vor seinen Augen seine aktuelle wahre Liebe Eloise Dujong umgebracht.
Als negative Folge des eigentlich anerkennenswert anspruchsvoll-artifiziellen Konstruktionsweise der Romantrilogie war den LeserInnen am Ende des „Dunkelbuches“ allerdings klar, dass Celeste Temple, Stabsarzt Svenson als auch Kardinal Chang die entstandene Misere überleben würden. Schließlich folgten die ersten beiden Bände dem strikten Schema, dass die Kapitel eines Bandes immer abwechselt einem anderen Protagonisten (Celeste Temple, Kardinal Chang oder den Stabsarzt Svenson) bei ihren jeweiligen Abenteuern begleiten würde; erst im jeweils zehnten, abschließenden Kapitel eines Bandes fänden sich alle Helden am selben Ort und würde über alle zugleich berichtet. Mit dieser von Dahlquist sich selbst auferlegten formalen Struktur als Erwartungshintergrund war dem Rezensenten klar, dass ihm im dritten Band ebenfalls zehn aktionsreiche Kapitel bevorstehen würden – mit beinahe überraschenden „Auferstehungen“ des Stabsarztes und des Kardinals in Kapitel 2 und 3. Und – so viel sei gleich gesagt – diese Erwartung wurde nicht enttäuscht. Eisern hält Dahlquist an seinen Helden-Trio und den zwischen ihnen wechselnden Kapitel-Perspektiven fest: ein in der Stringenz anzuerkennendes, was Spannung und Dramaturgie angeht, manchmal schon etwas ermüdendes Schema.
Vom Inhalt her hinterlässt der dritte Band wieder einen etwas klareren, zielgerichteteren Eindruck als der zweite. Allerdings ist dies nur zu verständlich, da im abschließenden Band einer Trilogie die Fäden nun mal zusammenlaufen müssen; während Mittelteile (siehe zum Beispiel auch Teil 5 bei »Star Wars« beziehungsweise Teil 2 der »Pirates of Caribbean«) regelmäßig erst einmal damit beschäftigt sind, eine Story mit weiteren Themen und Personal anzureichern, ohne sie schon vollenden zu können und zu dürfen.
So haben die irgendwie zerfasernden-unbefriedigenden Geschehnisse des „Dunkelbuchs“ ihren letztlichen Sinn darin, Vorbereitung und Übergang zur „Alchemie des Bösen“ zu sein. Der Comte d’Orkancz ist im Körper von Robert Vandaariff wieder auf der Handlungsbühne erschienen, allerdings sowohl geistig als auch körperlich nicht unversehrt: die negativen Eigenschaften des blauen Glases erfordern eine weitere Prozedur der Reinigung, bevor der Comte, egal in wessen Gestalt dann, seine diabolischen Pläne wird verfolgen und umsetzen können. Die entsprechenden – intrigierend-verstreuten – Vorbereitungen zu dieser Reinigungsprozedur, der chymischen Hochzeit, sind es, die die Geschichte nunmehr vorantreiben: mit der Contessa di Lacquer-Sforza als hauptsächlicher Strippenzieherin und Gegenspielerin der drei Helden in einem chaotischen London mit zusammenbrechender Wirtschaft, ohne handlungsfähiger Regierung und einem selbstbezüglich-degenerierten königlichen Hofstaat. Außer den drei Musketieren Celeste, Chang und Svenson gibt es kaum edelmütigen Gestalten (der positivste noch: der selbstlose Diener seines Herrn Foison) – und selbst diese drei sind deutlich versehrt. Celeste wird von den frivolen Erinnerungen des Comte beständig gepeinigt und zu Masturbation angehalten, Chang wurde vom wiederstellten Comte von seinen Kriegsverletzungen geheilt, dabei aber zugleich körperlich mit Glas angereichert, zu einem lange Zeit unbekannten Zweck; und der Stabsarzt lässt sich anfangs widerstrebend von der Contessa, die gerade – in Band 2 – seine wahre Liebe ermordete, sexuell anregen … Die wirklich Bösen, der Comte und Contessa, wiederum treten im Vergleich zu dem sabbernden Mittelmaß der Hofschranzen, der Militärs und bürgerlichen Möchte-Gern-Erben, um so strahlender – genialischer – in Erscheinung: Er als wahrer, gottgleich über allen Werten stehender Künstler und Alchemist; Sie als göttlich schöne, verführerische Frau und kluge-verständige Strategin.
Dass die Guten – nach allerlei hin und her – am Ende siegen, dies sei als Teaser zum Buch noch verraten; im Hinblick auf den metaphysische Grundkonflikt der Trilogie – des richtigen Haltung zum gefährlichen Eros – sei jedoch ergänzt, dass sich der ausgesprochen kluge Autor Gordon Dahlquist für eine zwar logische, aber eben nicht für die traditionell-simple Lösung einer Heirat von Celeste und Chang mit Svenson als Zeugen entscheidet. So wie er die Geschichte anlegt, wäre ein Happy End ehelich gerahmt-sanktionierter Ausschweifung auch unglaubhaft gewesen. Die drei guten Helden standen durchweg unpassend-außerhalb der bürgerlichen beziehungsweise. aristokratischen Gesellschaft, sie am Ende in eine solche bürgerlich-aristokratisch gemäßigte Existenz einmünden zu lassen, hätte enttäuscht.
Dass sich die Geschichte exzellent lesen lässt und trotz der vielen handelnden Personen, der ständigen Verwicklung, Intrigen und Gegenintrigen alles in allem übersichtlich bleibt, sei noch erwähnt: der Autor beweist hier erneut sein dramaturgisches Geschick. Etwas andauernd zu hoch scheint das Tempo der Story: Kaum haben die Helden und mit ihnen die Leserinnen und Leser einmal Zeit zum verweilen und reflektieren, welche Geheimnisse und Mysterien ihnen in dieser viktorianisch-alchemistischen Welt des blauen Glases begegnen; was das blaue Glas außer einer schrecklichen Waffe und Gefahr in der Hand genialer Feinde sein könnte; welchen Verlust seine verbrecherische Nutzung für das Gute darstellt … Was einen solchen phantastisch-spekulativen Anregungsgehalt (den sprichwörtlichen sense of wonder) angeht, ist das Buch – anders als noch der erste Teil – eher schwach. Für gesellschaftstheoretisch-philosophisch Interessierte bietet die Story eher wenig. Das zeigt sich auch darin, dass die drei guten Helden gegenüber den egomanisch-genialischen Visionen des Comte, sich mit und durch das blaue Glas unsterblich zu machen, oder den großindustriell-militärischen Weltherrschaftsplänen von Personen wie Harald Crabbé, Henry Xonck und Robert Vandaariff, keine eigene Vorstellung von etwas Erstrebenswertem haben (außer etwas privatem Frieden vielleicht): die Handlungsmotivation des Guten besteht in diesem Buch „lediglich“ darin, dem erkanntermaßen Bösen das Handwerk zu legen, und sich dann mit weiteren Privatfeldzügen oder einem antibürgerlichen Vagantenleben, die Zeit und das ausreichend vorhandene Geld zu vertreiben. Für England, London oder – abstrakt gesprochen – die Gesellschaft im Großen und Ganzen bleibt so, nach dem die Guten und Bösen beide verschwunden sind, nur die dilettanisch-ekelhafte Herrschaft des Mittelmaßes. Na Prost.
Einen wesentlichen Malus der Romantrilogie beziehungsweise. der Schreibweise von Gordon Dahlquist gilt es zum Ende dieser Besprechung noch zu erwähnen: seine Figuren, selbst seine Hauptfiguren, bleiben schematisch, ohne besondere Individualität oder auch Entwicklung. Sie haben zwar charakteristische innerliche und äußerliche Merkmale, aus denen sich ihre Handlungen auch sinnvoll-nachvollziehbar ableiten – dies haben sie aber eher mit Schachfiguren gemein als mit lebenden Personen. Generell scheint die von Gordon Dahlquist erfundene Story, mit den vielfältigen Ortswechseln, Geheimgängen und –laboren, etwas für Schachspieler: Da werden strategische Positionen eingenommen und geräumt, die eigenen Truppen gesammelt und verstreut, um irgendwann eine Lücke, eine lokale Überlegenheit gegenüber dem eigentlich gleichwertigen Gegner zu erreichen, die es erlaubt erfolgreich zuzuschlagen und zu siegen. Die drei guten Helden wären dann nicht mehr als die Dame, der Turm und Läufer der einen Seite – aber, das sei dem Buch zu gute gehalten, auch nicht weniger.
Denn unterhaltsam-spannend ist nunmehr vollendete Trilogie Dahlquists allemal und komplex-beziehungsreich-versponnen genug, dass man sie auch mehrmals mit Vergnügen von vorn bis hinten lesen kann.
Gordon Dahlquist (2013): Die Alchemie des Bösen. München: blanvalet, 639 Seiten, 9,99 €.
Disclaimer: Fischpott hat ein Rezensionsexemplar von Random House erhalten.
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