Die Verratenen. Die Verschworenen. Die Vernichteten
Jugendbuch-Trilogie von Ursula Poznanski
Die Verratenen. Die Verschworenen. Die Vernichteten. Das klingt wie drei weitere Bände zur Millennium-Trilogie von Stieg Larsson und ist mindestens genauso schlecht zu erinnern wie deren einzelne deutsche Titel (irgendwas mit Ver…). Hinzu kommen eine Covergestaltung, die langweiliger kaum sein könnte, und Teaser, die Spannung behaupten, dabei aber völlig nichtssagend sind. Doch gibt es ein schlagendes Argument, sich dieser Jugendbuch-Trilogie anzunehmen: Die Autorin heißt Ursula Poznanski. Erebos und Saeculum hatten mir schon ausgesprochen gut gefallen. Und nun habe ich wieder was dazugelernt: Titel, Gestaltung und Teaser sind völlig überbewertet. Diese drei Bücher gehören zum Besten, das ich seit langem gelesen habe.
Die Macht der Rhetorik
Sechs junge Erwachsene auf der Flucht durch Eiseskälte und Schnee. Gerade eben haben sie miterleben müssen, wie drei Männer ihre Beschützer mit anachronistischen Waffen getötet haben. Jetzt sind die Mörder hinter ihnen her, und die sechs haben ihnen nichts entgegenzusetzen. Studierende sind sie, die Elite ihrer Akademie. Definitiv keine Kämpfer, auch wenn ihre Ausbildung Selbstverteidigung berücksichtigt hat. Ohne Waffen können sie nur um ihr Leben rennen. Doch dann bleibt die sechste unter ihnen stehen, dreht sich um, stellt sich den Verfolgern entgegen. Eleria hat eine Waffe, die vielleicht nicht reicht, ihr eigenes Leben zu retten. Aber ihren Freunden kann sie die nötige Zeit verschaffen, dessen ist sie sich sicher. Denn Eleria weiß um die Macht von Sprache und Rhetorik.
Rhetorik ist ein zentraler Begriff in Ursula Poznanskis Jugendthriller-Trilogie, viel dreht sich auch um Emotionskontrolle und das Vermögen, in Gestik, Mimik und Tonfall des Gegenüber zu lesen. Eleria ist eine Meisterin dieser Fächer; im Ranking ihrer Akademie, das alle Studierenden aller Fächer berücksichtigt, befindet sie sich immerhin auf Platz 7. Bislang war sie nur noch nie in der Situation, ihre Kompetenzen unter den Bedingungen von massivem Druck und realer Gefahren anwenden zu müssen. Ebenso wenig wie ihr Freund, der Stratege Aureljo (1) oder der angehende Arzt Fleming (32), die Botanikerin Tomma (65), der Techniker Tycho (89) und der Künstler Dantorian (114). Zu Beginn des ersten Bandes Die Verratenen werden diese sechs zu Verrätern erklärt und landen auf einer Todesliste. Was oder wen sie wie oder warum verraten haben sollen, wissen sie nicht. Warum sie nicht vor Gericht gestellt werden, auch nicht. Sie wissen nur, dass sie ihr Heil einzig in der Welt draußen finden können. Und das, obwohl es für sie bislang immer nur ein Drinnen gab.
Mindestens 200 Jahre in der Zukunft
Wir schreiben ein Jahr irgendwann in der Zukunft. Während der vergangenen mindestens 200 Jahre hat sich die Welt nach einer apokalyptischen Vulkanexplosion verdunkelt und die Bühne für eine Eiszeit bereitet. Nun lebt die Menschheit aufgeteilt in zwei Lager: Zum einen sind da jene, die die Vorzeichen erkannt und frühzeitig für sich selbst und ihre Nachfahren Schutzräume geschaffen haben. Nicht länger leben diese Privilegierten in Städten, sondern bewohnen Sphären. Zum Teil nach alten Städten benannt, sehen diese Sphären wie große Glaskuppeln aus und bieten eben nur für Auserwählte Platz und Ressourcen. Alle anderen, von den Sphärenbewohnern abfällig Prims genannt, schlagen sich, organisiert in Clans, mit Eiseskälte, Hunger, Krankheit und Tod herum. Deren Verzweiflung geht sogar so weit, dass die einen ihre Kinder vor den Sphären ablegen, während die anderen im unangenehmen Ruf stehen, bei Gelegenheit Sphärenbewohner nicht nur zu massakrieren, sondern auch noch zu verspeisen.
Ich-Erzählerin ist die achtzehnjährige Eleria, von ihren Freunden kurz Ria genannt. Benannt ist sie jedoch weit komplizierter nach Eleonore von Aquitanien, die durch Heirat erst Königin von Frankreich, dann von England war und als eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters gilt, und Ariadne, der Figur der griechischen Mythologie, die die Idee des roten Fadens für die Kennzeichnung des Weges aus einem Labyrinth hatte. Die komplizierte Namensgebung kommt nicht von ungefähr. Der Bund erwartet von seinem elitären Nachwuchs nur das Beste. Als Nummer 7 hat sie hervorragende Aussichten, später Sprecherin des Sphärenbundes zu werden und zusammen mit Aureljo das gespannte Verhältnis zu den Prims zu verbessern. Benannt nach Marc Aurel richtet der sich innerlich schon mal darauf ein, der nächste Sphären-Präsident zu werden. Dass die beiden diesen Job nun unter ganz anderen Bedingungen in Angriff nehmen müssen, hätten sich diese linientreuen Vorzeigeschüler in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können.
Leben in einem gläsernen Käfig
Das Leben in den Sphären wirkt zwar nicht übertrieben luxuriös, aber immerhin ist es unter den Kuppeln angenehm warm. Dafür haben Eleria und ihre Kollegen noch nie oder höchst selten ungefilterte Luft geatmet. Aber auch für die Elite sind die Ressourcen begrenzt; in der Sphäre Hoffnung, die die Akademie beherbergt, ist Verschwendung kein Kavaliersdelikt. So ist Geschmack irrelevant. Unter Essen verstehen Sphärenbewohner Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette und eine Art Smartwatch, die ihre Träger Salvator nennen, achtet pingelig darauf, dass die Studierenden ihre nötigen Einheiten zu sich nehmen. Auch sonst bewacht der Salvator sehr genau alle physiologischen Parameter und alarmiert bei Veränderung sofort die medizinische Einrichtung der Sphäre. Dass diese kleinen Geräte sie aber auch in allen anderen Bereichen ständig überwachen, davon hatten die vermeintlichen Verräter keine Ahnung. Aber vielleicht hätte es sie noch nicht einmal gestört. In ihren Augen steht der Sphärenbund für Humanität und das Streben nach ständiger Verbesserung. Das Wohl der Gemeinschaft steht über dem des Einzelnen. Wäre da nur nicht diese unerklärliche Sache mit der Todesliste.
Die Welt außerhalb ihres goldenen Käfigs hält für die Flüchtlinge so manch Herausforderung bereit, bittere Erkenntnisse inbegriffen. Allzu oft scheitert Eleria mit ihren rhetorischen Mitteln und ihrer Empathie, trifft auf Härte und absolute Ablehnung, um an anderer Stelle überrascht zu werden von Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Manchmal vermischen sich diese Gegensätze aber auch zu einer Einheit, die Eleria dann gar nicht mehr zu interpretieren vermag. Aber so ist das nun mal, wenn Vertreter zweier sehr unterschiedlicher Kulturen aufeinandertreffen, die zudem auch noch auf höchst schlechte Erfahrungen mit der jeweils anderen zurückschauen: Es erfordert sehr viel emotional-soziale Kompetenz bei der gegenseitigen Annäherung. Wenn dann aber auch noch ganz andere Gründe für die Kooperation hinzukommen, nimmt die Geschichte erst so richtig Fahrt auf.
Eine Trilogie, die in den Bann zieht
Nun habe ich aber sehr viel gespoilert, mag einer denken. Dabei habe ich bislang nur einen kleinen Ausschnitt dessen angerissen, das die insgesamt über 1.400 Seiten der drei Bände ausmacht. Ursula Poznanski springt direkt hinein in ihre Dystopie, gibt wenig Erklärung, nennt kaum brauchbare Jahreszahlen oder räumliche Einordnung der Sphäre Hoffnung. Irgendwo zwischen den Sphären Neu-Colonia und Vienna 2 scheint sie zu liegen, in einer weitgehend leeren Schneelandschaft. Dafür baut die Autorin mit feiner Feder über die Zeit hinweg ein Geflecht von Details und Erkenntnissen auf, die teilweise zum jeweilig aktuellen Zeitpunkt fast nebensächlich wirken, sich später aber zu einem großen Gesamten zusammensetzen. Manche nennen das Vorgehen der Autorin wendungsreich. Ich nenne es eine extrem gut gelungene Konstruktion, die zum Zweitlesen einlädt: Ist die Trilogie mit Kenntnis des Endes noch immer spannend und zum jeweiligen Zeitpunkt schlüssig, dann ist sie großartig.
Wie immer hebt Ursula Poznanski bei allem niemals vordergründig den Zeigefinger. Sie erzählt. Sie belehrt nicht. Wer hingegen seine Lehren aus ihrer Geschichte ziehen möchte, ist eingeladen, dies zu tun. So könnte man auf die Idee kommen, die Ortungsfunktion des eigenen Smartphones nur bei echtem Bedarf anzuschalten und sich für die Rechte der Apps zu interessieren – der Salvator lässt grüßen. Aber man kann solch versteckte Zaunpfähle natürlich auch geflissentlich ignorieren. Nach etwa 50 Seiten legt sie dann das Grundproblem offen – Verräter, die sich den Vorwurf nicht erklären können – und gestaltet fortan eine Stimmung, die eine Mischung aus Verschwörungstheorie, Selbstzweifel und dem Bestreben ist, die Kontrolle über die eigenen verrücktspielenden Emotionen zurückzugewinnen. Durch Eleria gibt die Autorin einige kleine Tipps heraus, was man tun kann, um sich selbst wieder in den Griff zu bekommen, Ruhe zu bewahren und die beängstigende Situation zu analysieren. Auch wenn der Die Verratenen aus dem Jahr 2012 stammt, erscheint das Buch in der jüngsten, in Teilen so sehr von Hysterie geprägten Zeit erschreckend aktuell.
Ähnliches gilt auch für das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Kulturen, hier: die flüchtenden Sphärenbewohner und die Clans. Im Laufe der Geschichte erfahren wir, dass beide allen Grund haben, sich gegenseitig zu hassen. Statt aber dumpf aufeinander loszugehen, übernimmt die Diplomatie die Oberhand. Sprache und Rhetorik sind also auch hier die maßgeblichen Faktoren, auch wenn nur wenige der Beteiligten mit ihren grundsätzlich sehr gegensätzlichen Absichten das Grundverständnis mitbringen und entsprechende Techniken beherrschen. Im Endeffekt sind es aber genau diese Mittel, die wesentlich zur Abwendung einer erneuten Katastrophe beitragen.
Die Gnade der späten Lektüre
Der erste Band Die Verratenen stammt wie gesagt aus dem Jahr 2012. Der zweite Teil Die Verschworenen erschien erst genau ein Jahr später, der dritte Teil Die Vernichteten dann im Sommer 2014. Ich stelle mir vor, ich hätte jedes Mal so lange auf Fortsetzung warten müssen. Ich fand es schon unerträglich, einen Tag auszuhalten! Im Gegensatz zu anderen Trilogien – sagen wir: Star Wars – verhält es sich hier nämlich nicht so, dass mit dem Ende des ersten Teils eigentlich auch hätte Schluss sein können. Nein, vielmehr bleibt hier wirklich alles offen, schlimmer noch als beim zweiten Teil der Star Wars-Trilogie, da Han Solo eingefroren in Karbonit steckt. Ich kann also wirklich nur jedem empfehlen, sich zumindest mal direkt die ersten beiden Bände zu kaufen. Abgeschreckt von Titel, Cover und Teaser hatte ich mir für die Weihnachtstage nur Die Verratenen mitgenommen und stand am Mittag des ersten Feiertages fassungslos ohne Fortsetzung da. Aber wie gut, dass es Bahnhofsbuchhandlungen gibt, die besuchte ich tags drauf. Und für den Rest sorgte schließlich eine junge Freundin, die mir ihren dritten Band lieh. Den gibt es übrigens ab Mitte Februar 2016 dann auch als Taschenbuch. Durststrecken sind dann also gar nicht mehr nötig.
Manchmal lohnt es sich eben doch, etwas länger mit der Lektüre zu warten. Wirklich gute Bücher werden mit der Zeit einfach nicht schlechter.