John Wick: Kapitel 4 – Review
Ich bin ja im Kern ein simpler Mensch. Auch wenn ich bemüht bin, die Fassade eines Kunstfilmsnobs, der sich zu Weihnachten eine Jean-Luc Godard DVD-Box schenken lässt, aufrecht zu halten, stehe ich im Kino letztlich doch wieder ganz vorne am Ticketschalter, sobald ein neuer John Wick-Film veröffentlicht wird und Keanu Reeves ein viertes Mal wie eine bärtige Ballerina um seine Gegner herumwirbelt und sie dabei mit Kugeln füttert.

Es ist mittlerweile neun Jahre her, seit John Wick erstmals die Kinoleinwände segnete und mit einer simplen Rachegeschichte das moderne Actionkino revolutionierte. Wo große Blockbuster sich auf den Trend eingeschossen hatten, Stunts und Kämpfe durch wildes, unkoordiniertes Kameragewackel zu verstecken, beeindruckte der Film von den beiden ehemaligen Stuntleuten und erstmaligen Regisseuren Chad Stahelski und David Leitch durch lange Einstellungen und hundertprozentige Klarheit in seinen Faustkämpfen und Schießereien.
Nicht zuletzt war da die Story, heruntergebrochen auf die simpelsten Moleküle: Arrogante russische Mafiosi stehlen das Auto von John Wick und töten nebenbei noch seinen Welpen, den der trauernde Witwer von seiner erst kürzlich verstorbenen Ehefrau geschenkt bekommen hatte. Doch John Wick ist nicht einfach nur Irgendjemand. John Wick war mal Auftragskiller, der beste seiner Zunft, gefürchtet in der Unterwelt – sein Spitzname, erfürchtig geflüstert: „Baba Yaga“ – der schwarze Mann. Dieser schwarze Mann wurde soeben aus seiner Rente gelockt. Stinksauer.
Wenn man über das John Wick-Franchise redet, muss man über Keanu Reeves reden – das Herzstück der Reihe und das große Ass im Ärmel. Lange als hölzerner Schauspieler verschrien, ist dennoch unbestreitbar, dass Reeves der unverzichtbare Anker zahlreicher Actionklassiker wie Matrix oder Speed oder Gefährliche Brandung ist. So limitiert er auch in seiner emotionalen Expressivität sein mag, so sehr gleicht er das durch eine in Hollywood unerreichte Arbeitsethik aus. Monatelang trainierte er täglich mehrere Stunden in allen Disziplinen, die für John Wick relevant sind – Jiu Jitsu, Waffen, Autos. Das Resultat: Ein Großteil der Action auf dem Bildschirm sind keine Stuntdoubles, sondern Keanu Reeves selbst, der seine Feinde mit Kugeln und Messern spickt wie ein Mettigel und dabei komplexe und vor allem lange Kampfsequenzen eigenhändig ausführt.
Die Jagd geht weiter
Die Ereignisse dieses revolutionären ersten Films mögen in unserer Welt lange zurückliegen – im mittlerweile vierten Kapitel der John Wick-Saga sind allerdings gerade mal ein paar Monate seit dem so verhängnisvollen Welpenmord vergangen. Das Kopfgeld auf John Wick (Keanu Reeves) in der kriminellen Unterwelt liegt mittlerweile im mehrstelligen Millionenbereich. Wick lässt sich davon allerdings nicht abhalten und verteilt in der Sahara ein paar zünftige Kopfschüsse – unter anderem in den Kopf des Ältesten der Hohen Kammer. Das will diese natürlich nicht auf sich sitzen lassen und so wird der blumig benamte Marquis Vincent de Gramont (Bill Skarsgård) mit allen Befugnissen und Mitteln ausgestattet, um Wick endgültig zur Strecke zu bringen. Dieser entsendet den blinden Assassinen Caine (Donnie Yen) und den Hundefreund Mr. Nobody (Shamier Anderson). Für den zunehmend in die Ecke getriebenen John bleibt nur noch ein einziger Ausweg in die Freiheit: Er muss den Marquis nach den alten Regeln seiner Zunft in einem Duell besiegen.
Nach drei vorangegangenen Filmen dürfte die Formel für einen John Wick-Film jedem bekannt sein und auch Kapitel 4 weicht nicht davon ab: In bester Bond-Manier geht es um die ganze Welt und John Wick reist an exotische wie luxuriöse, in Neonlicht getauchte Locations, die im Laufe der jeweiligen Szene in Blut, Kugeln und Trümmer aufgehen. Keanu ist dabei verlässlich wie eh und je, wirbelt und rollt sich durch die Gegend, steigert den Bleigehalt in den Körpern seiner Gegner und zeigt eine Akrobatik, die selbst dann unfassbar beeindruckend wäre, wenn Reeves nicht bereits 58 Jahre alt wäre.
Rave in der Alten Nationalgalerie
Hinzu kommt ein weiteres hervorstechendes Detail, das die John Wick-Filme von seinen Action-Zeitgenossen abhebt: Das völlig übertriebene World Building. Das John Wick-Universum spielt in einer Realität, die sich eindeutig von unserer abgrenzt. Die Unterwelt in diesem Film ist so weitumspannend, dass gegen Ende des dritten Films quasi jeder ein Auftragskiller ist. Diese logieren in barocken Luxushotels, zahlen mit Goldmünzen und verfügen über ein weltumspannendes Netzwerk. Teil des Charmes in diesen Filmen ist es, die absurden und amüsanten Details zu entdecken, mit denen die Ränder dieser Welt ausgemalt werden. Gleichzeitig hilft es bei der Abstraktion – Schießereien in Diskotheken oder auf offener Straße könnten durchaus unangenehme Erinnerungen an Tragödien in der Realität wecken, aber die erzählerische Überhöhung und die so eindeutig fiktionale Welt, in der sich John Wick bewegt, leistet eine Menge, um diesem Effekt entgegenzuwirken.
So viel Lob Keanu verdienterweise für diese Filme einsteckt – ein John Wick-Film ist nur so gut wie seine Nebenfiguren. Kapitel 4 setzt den erfreulichen Trend des Franchises fort, absolute Größen des Martial Arts- und Actionkinos einzusetzen, um mit ebenso beeindruckenden Stunts wie der Titelheld zu punkten. Die frühen Sequenzen in Osaka werden durch die stille, würdevolle Präsenz von Hiroyuki Sanada aufgewertet. Kampfkünstler Marko Zaror ist ein effektiver Gegenspieler und „Zwischenboss“, dessen Martial Arts-Kenntnisse seinen Kampfszenen den ganzen Film über eine beeindruckende Wucht verleihen. Newcomer Shamier Anderson und Rina Sawayama kommen insgesamt leider zu kurz, machen durch ihre Performances allerdings gut auf sich aufmerksam und bergen viel Potenzial für künftige Spin-Offs.
Dann ist da noch Direct to Video-Action-Legende Scott Adkins, der es endlich in das Franchise geschafft hat, wenn auch unter viel Make-Up: In einem fiktiven, barocken Nachtclub in Berlin (ich wusste gar nicht, dass in der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel nachts derart wilde Parties gefeiert werden) trifft John Wick auf den Unterwelt-Boss Killa Harkan – Adkins in einem beeindruckenden Fatsuit, verschwitzt, mit falschen Zähnen und noch falscherem Akzent, generell eklig und mit viel Spaß am Overacting in den Backen. Wer zunächst enttäuscht ist, dass einer der besten Martial Artists im modernen Film unter einem Haufen Latex einfach nur an einem Tisch sitzt, der sei beruhigt: Scott Adkins kanalisiert im Laufe der Sequenz seinen inneren Sammo Hung und verpasst Wick einige zünftige und akrobatische Roundhouse-Kicks. Das muss Brendan Fraser in The Whale erstmal nachmachen.
Zurück kommen Franchise-Veteranen wie Ian McShane, Laurence Fishburne oder der kürzlich viel zu früh verstorbene Lance Reddick (RIP), die sich mit Elan in ihre alten Rollen werfen. Und „Pennywise, der tanzende Clown“-Darsteller Bill Skarsgård gibt mit undefinierbarem Akzent und schmierigem Charme einen adäquaten Antagonisten ab. Aber der Film gehört alles in allem eindeutig Donnie Yen. Nicht nur, dass Yen (natürlich) die besten Stuntkämpfe im gesamten Film absolviert – sein blinder Assassine Caine gewinnt durch die komplexe und vielschichtige Performance und seine Figur bringt eine innere Emotionalität an die Oberfläche, die dem Rest des Films oft schmerzhaft fehlt.
Ich denke, also schieß ich
Womit wir beim Knackpunkt von John Wick: Kapitel 4 angekommen sind. Wer diese Filme als „einfach nur hirnlose Action“ klassifiziert, tut ihnen Unrecht: Auch Action muss mitreißend sein. Man muss mit den Figuren mitfühlen, damit Spannung entsteht, damit die endlosen Ballereien nicht ermüden. Und der Erfolg gibt dem Franchise recht: Klar, die Plots sind keine David Mamet-Drehbücher, aber der emotionale Kern liegt in seinem Protagonisten. John Wick will doch eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Aber er wird aus der Rente und der Trauerphase über den Tod seiner Frau herausgerissen, durch einen Akt grausamer Gedankenlosigkeit – und wie seine Mentorenfigur Winston (Ian McShane) schon im ersten Film so weise voraussagte: „Du bist rausgekommen. Wenn Du jetzt auch nur einen Fuß in diesen Sumpf setzt, könntest Du etwas finden, dass Dich packt und in die Tiefe zieht.“
Diese Abwärtsspirale zurück in ein altes Leben, das er lange hinter sich lassen wollte, hat drei Filme lang funktioniert – doch nun machen sich Ermüdungserscheinungen bemerkbar, die sich bereits in Kapitel 3 angedeutet haben. Gleich mehrfach fragen Figuren in diesem Kapitel 4: „Wozu das alles? Wo soll das enden?“ und die Tatsache, dass John keine Antwort auf diese Frage hat, ist ein Problem. Das große „Warum?“. Der emotionale Anker, seine verstorbene Ehefrau, ist längst ein vergangener Schatten in diesem Universum und die Lippenbekenntnisse ihr gegenüber reichen nicht mehr aus. Und wenn man als Zuschauer nicht mehr weiß, was den Protagonisten, mit dem man ja mitfiebern soll, überhaupt will, was sein Ziel ist, dann steigt man aus. Und dann bleiben halt nur die Schießereien und Schwertkämpfe und Verfolgungsjagden. Die immer noch brillant inszeniert sind, keine Frage. Aber wir haben sie halt schon über drei Filme lang gesehen. Hinzu kommt, dass Kapitel 4 viel zu lang ist – 169 satte Minuten. Und diese Länge fühlt man, gerade im Mittelteil, trotz all der umherschwirrenden Kugeln. Man hat sich an den John Wick-Schießereien schlicht und ergreifend langsam sattgesehen…
Ein glorioses Finale
…dachte ich. Und dann kommt der letzte Akt. Die letzten 40 Minuten sind eine wilde Achterbahnfahrt, die alle diese Probleme nicht verschwinden lässt, aber mehr als erfolgreich ausblendet. Sobald John Wick in Paris ankommt, sind die Ziele und Motivation erfrischend simpel und klar: John muss pünktlich zum Sonnenaufgang vor der Sacré-Cœur für sein Duell mit dem Marquis sein. Der Marquis hat verständlicherweise keine Lust darauf und schickt eine Armee an Assassinen, deren einziges Ziel ist, John daran zu hindern, sein Ziel zu erreichen.
Das Resultat sind 40 Minuten Non-Stop-Action von einem Kaliber, das seinesgleichen sucht. Die Intensität, die durchgedrehte Eskalation, die jedes Mal, wenn man denkt, dass man den Höhepunkt der Verrücktheit erreicht hat, noch eine Schippe drauflegt – in dieser letzten Phase ist John Wick: Kapitel 4 einer der besten und beeindruckendsten Actionfilme aller Zeiten, untermalt in einer amüsanten The Warriors-Hommage von einer Radio-Erzählerstimme, die Wicks Odyssee durch das nächtliche Paris mit dem passenden Soundtrack versieht. Allein das Wort „Drachenfeuer-Schrotflinte“ sorgt bereits für ein erwartungsvolles Grinsen, das in einer glorios überkandidelten Sequenz ohne Schnitt nicht enttäuscht. Und was dann auf den berühmten Treppen zu Sacré-Cœur passiert, dem kann ich mit Worten nicht gerecht werden – das MUSS man einfach gesehen haben.
So endet das John Wick-Franchise dann doch auf einer mehr als befriedigenden Note, im Sonnenaufgang aller Sonnenaufgänge und gibt der Hauptfigur endlich das, was sie über vier Filme verzweifelt gesucht hat: Frieden. Kapitel 4 ist ein Action-Meisterwerk – gleichzeitig zeigt es aber auch Ermüdungserscheinungen. Chad Stahelski ist ein extrem fähiger Action-Regisseur, inszeniert Stunts mit Klarheit und beweist ein weiteres Mal, dass die Oscars dringend einen Preis in dieser Kategorie benötigen. Doch der emotionale Kern fehlt leider und Keanu Reeves ist als Schauspieler dann doch zu limitiert, um das durch seine Performance aufzufangen. Als wahres Herzstück des Films erweist sich Donnie Yens Caine, aber der ist halt nicht die zentrale Figur des Franchises. Die heißt halt immer noch „John Wick“. Und wenn nicht mal er mehr weiß, wofür er kämpft, woher sollen es dann die Zuschauer wissen? Ein Kugelhagel ist nur mitreißend und spannend, wenn man mit den Figuren in diesem Kugelhagel mitfiebert. Sonst ist es nur Getöse.
Es ist also gut, dass John Wick mit seinem vierten Kapitel ein Ende findet (vorläufig zumindest). Und es ist ein würdiges Ende, allen Abstrichen zum Trotz. Besser inszenierte Action findet man nach wie vor nirgends und das Talent und die harte Arbeit aller Beteiligten ist auf der Leinwand ebenso ersichtlich wie die Liebe zum Detail und der Spaß am Spektakel. Je mehr Filmemacher sich von diesen Filmen eine Scheibe abschneiden und inspirieren lassen, desto besser. In Zeiten von Superhelden-Orgien, deren Action komplett am Computer generiert wird, hat sich ein kleiner, handgemachter Actionfilm wider Erwarten zu einem veritablen Franchise gemausert. Wir brauchen Filme wie John Wick. Gelobt sei unsere bärtige Ballerina. Gebt diesem Mann eine Waffe!
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