Kugelblitz Roman von Cixin Liu
Haste einen Bestseller am internationalen Markt, klappt es plötzlich auch mit deinen früheren Werken. So geht es aktuell Liu Cixin. Dessen hochkomplexe Trisolaris-Trilogie hat jedenfalls den Weg für seinen bereits im Jahr 2000 verfassten Kugelblitz Roman bereitet. Und der ist natürlich nicht minder schwierig. Dafür liefert der chinesische Science-Fiction-Autor seine sehr eigene Vorstellung davon, was so ein Kugelblitz überhaupt ist. Seine Begeisterung für das Thema geht übrigens darauf zurück, dass er selbst einmal Zeuge dieses seltenen Naturphänomens geworden war.

Was ist eigentlich ein Kugelblitz?
… fragte ich mich, als ich in der Buchhandlung an der Kasse stand. Dann gab mir die einzig passende Antwort direkt selbst: Das wird mir Liu Cixin mit seinem Kugelblitz Roman schon erklären. Deshalb habe ich vor der Lektüre auch gar nicht erst die Wikipedia befragt. Die spricht von widersprüchlich beschriebenen Beobachtungen, für die die Physik kaum Erklärungen zu liefern imstande ist.
Bei Liu Cixin klingt das Ganze hingegen so:
An seinem 14. Geburtstag wird Hauptfigur Chen Zeuge, wie ein Kugelblitz durch die Wand in sein Zuhause eindringt. In etwa so groß wie ein Basketball, rötlich leuchtend und schrill heulend, schwebt er in chaotischen Bahnen, scheinbar ziellos über die Köpfe seiner Eltern hinweg. Während Chen seinen Blick kaum von der unendlichen Tiefe dieser halbdurchsichtigen Kugel wenden kann, versuchen seine Eltern sich zu schützen. Doch gerade deren Bewegung scheint den Kugelblitz anzuziehen. So kommt es, dass Chen miterleben muss, wie seine Eltern zu grauer Asche werden. Grauer Asche, die in der zuletzt eingenommenen Pose verharrt. Der Vater, die Hand schützend über seinem Kopf. Die Mutter, ihre Hand auf dem Arm ihres Mannes.
Sprengstoff wie TNT, so sagt Liu Cixin in dieser Eingangsszene, entwickle eine Energiedichte von nicht mehr als zweitausend Joule pro Kubikzentimeter. In einem Kugelblitz hingegen müsse man von dem mehr als Zehnfachen ausgehen. Und auch wenn es im Inneren mehr als fünfmal so heiß ist wie im Ofen eines Krematoriums, bleibt diese Art von Blitz an seiner Oberfläche kalt.
Auch sonst verhält sich so ein Kugelblitz höchst seltsam. Er folgt keiner nachvollziehbaren Flugbahn. Er sieht nicht immer gleich aus. Und seine Energieentladung zerstört sehr selektiv. Während er Vater und Mutter den Garaus macht und das tiefgefrorene Hähnchen im Kühlschrank gart, bleiben die Holzstühle seiner Eltern unversehrt. Und an Chen zerfällt einzig sein Hemd unter seiner Jacke zu Staub.
Für Chen bedeutet dieses traumatische Erlebnis jedenfalls, dass sein Leben fortan nur noch einem Zweck dienen soll: Der Erforschung von Kugelblitzen.
Angewandte Kugelblitzforschung
Ersparen wir uns all die erzählten Jahre, die Chen mit seinen Studien verbringt. Dazu gibt es eigentlich nur das zu wiederholen, was sein Professor ihm sagt: Lass es sein, das bringt nichts.
Dabei hat sein Professor selbst mehr als die Hälfte seines Lebens damit verbracht, Kugelblitze zu erforschen. Doch dann hat der Gelehrte verstanden, dass die reine Kunst der Wissenschaft allein nicht satt macht. Ein Anwendungszweck muss her. Denn nur der lässt sich zu Geld machen.
Diesen Anwendungszweck findet Chen schließlich durch die Bekanntschaft mit Lin Yun. Die ist Majorin beim chinesischen Militär und hat sich ganz der Entwicklung von Konzeptwaffen verschrieben. In diesem Kontext ist auch sie auf der Jagd nach Kugelblitzen. Denn man stelle sich vor, diese ungeheure Zerstörungskraft ließe sich für eine Blitzwaffe nutzen!
So gegensätzlich ihre Absichten, so groß dann doch ihrer beider Vernarrtheit in das seltene Naturereignis. Die verlieren sie auch nicht, als sie in Sibirien einen weiteren Vertreter der internationalen Kugelblitzforschung treffen. Der hat ebenfalls sein ganzes Leben diesem Naturphänomen gewidmet und es dabei sogar geschafft, solche Blitze im Labor zu produzieren. Doch hat er es nie geschafft, dies auch zu reproduzieren. Mit anderen Worten: Keiner hat jemals verstanden, warum ein Kugelblitz ausgelöst wurde. Oder warum nicht.
Diese Erkenntnis lässt Chen fast verzagen. Doch dann kommt ihm der alles lösende Gedanke: Was ist, wenn Kugelblitze eigentlich immer da sind? Was ist, wenn sie nur auf die entscheidende Energiezufuhr warten, um dann sichtbar und auch zerstörerisch zu werden?
Vom Kugelblitz zum Donnerball
An dieser Stelle wird der Kugelblitz Roman dann wirklich interessant. Denn Kugelblitze, so lautet Liu Cixins Theorie, basieren tatsächlich auf sogenannten Makroelektronen. Also auf einem Elementarteilchen, das allerdings nicht im Mikrobereich unterwegs ist, sondern einer Makrowelt angehört. Und diese Welt muss wirklich sehr groß sein. Denn wenn so ein Makroelektron die Größe von einem Fuß- oder Basketball hat: Wie riesig ist dann das Atom, zu dem es gehört? Und wie gigantisch wäre das Gehirn eines Makro-Menschen – etwa so groß wie die gesamte Milchstraße?
Zu dieser Erkenntnis gelangen Chen und Lin Yun, als sie Ding Yi zurate ziehen. Der ist ein ziemlich seltsamer Kauz von Physik-Professor und Nobelpreis-Nominierter, mit dem es sich nur schwer aushalten lässt. Aber an Ideen mangelt es ihm nicht. Und so kommt es, dass sie von ihm nicht nur lernen, Makroelektronen mit bloßem Auge zu erkennen. Vor allem entwickeln sie zusammen eine Methode, diese Makroelektronen einzufangen, sie zu speichern und dann auch aus ihnen Kugelblitze zu machen. Die sie fortan nur noch Donnerbälle nennen. So lautet die offizielle Bezeichnung für die dann auch realisierbare Konzeptwaffe entsprechend Donnerball-MG.
Winke winke – Schrödingers Katze lässt grüßen
Das Problem an den Donnerball-MGs ist tatsächlich nur ihre Treffsicherheit. Bald stellt sich heraus, dass die Donnerbälle immer nur dann ihr Ziel erreichen, wenn ihnen jemand dabei zuschaut. Auf überschaubare Distanz ist das zwar nicht allzu schwer. Die Donnerbälle sind nämlich eher in einem gemächlichen Tempo unterwegs. Blöd wird es erst, wenn tatsächlich Krieg herrscht und man sich als Schütze nicht gerade in Sichtweite aufhalten möchte.
Warum aber funktionieren die Dinger nur, wenn ihnen einer zuschaut? Hier kommt nun Schrödingers Katze ins Spiel. Und über deren Zustand wissen wir nur zu sagen, dass alles möglich ist – solange es keinen Beobachter gibt.
Auch wenn Makroelektronen sehr groß sind, gehören sie doch in die Disziplin der Quantenphysik. Und in der geht es nun mal um Quantenzustände, die in dem Moment kollabieren, wenn es einen Beobachter gibt. Ohne diesen Beobachter bleibt alles eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Mit anderen Worten: Nur ein Beobachter macht aus »alles ist möglich« eine lebende oder eine tote Katze.
Und so kommt es, dass ab dem Moment, da im Kugelblitz Roman plötzlich tote Schafe blöken, das Ganze tatsächlich anfängt, Spaß zu machen. So morbide das auch klingen mag.
Apropos morbide.
Kugelblitze sind eine feine Sache
…, stellte meine Freundin kurz und bündig fest. Wir hatten mal wieder über die arg überschaubaren Möglichkeiten der Bestattung gesprochen. Ich will nicht sagen, dies sei eins unsere Lieblingsthemen, aber wir lamentieren halt immer wieder mal darüber. Die Aussicht, in einem Grab zu vergammeln, finden wir beide äußerst abschreckend. Demgegenüber ist so ein Krematorium zwar schon ein Fortschritt, aber auch nicht wirklich attraktiv. Dann erzählte ich ihr vom Kugelblitz Roman und schickte ihr einen Textauszug, in dem der Leichnam von Chens altem Lehrer dank eines Kugelblitz zu Asche zerfällt.
Ich denke, wir sind uns einig: Hier liegt der wahre Anwendungszweck für Kugelblitze. Bei dem die Trauergäste allerdings dem Ort des Geschehens nicht zu nah kommen sollten.
Im Kugelblitz Roman dreht sich jedoch alles viel mehr um militaristische Zwecke und Geschichten. Krieg gegen die USA inbegriffen, auch wenn diese nicht konkret als »Feind« benannt sind. Das ist alles nicht uninteressant, aber… Hand aufs Herz, ohne Die drei Sonnen hätte es dieses Buch wohl kaum auf den deutschen Markt geschafft. Zu mühsam ist einfach der erste Teil, in dem aus dem 14-jährigen ein junger Mann wird, der sich durch sein Studium kämpft. Und letztlich auch zu unaufdringlich die feine Ironie, die in all dem Tech-Talk mitschwingt. Dass das auch anders geht, hatte der Schriftsteller in seinem Kurzgeschichtenband Die wandernde Erde gezeigt.
Ab dem zweiten von insgesamt drei Teilen aber kommt mit dem verrückten Professor Ding Yi jene Menge Philosophie ins Spiel, die dann den Unterschied ausmacht. Auf einmal entwickeln sich – wenn auch mit reichlich Umwegen – grundlegende Fragen nach Leben und Tod. Und wenn schlussendlich alles in der Frage nach der Existenz einer blauen Rose mündet, hat sich die Lektüre dann doch gelohnt.