Papiere, die die Welt bedeuten
Interview mit Peter Schauerte-Lüke
Die Kunstform Papiertheater begann ihr Dasein als Zeitvertreib zur Biedermeierzeit. Für Opern, Märchen und Schauspiele erweckt eine Spielerin oder ein Spieler Papierfiguren auf der Miniaturbühne zum Leben, gibt ihnen Stimme und Charakter. Peter Schauerte-Lüke betreibt das einzige öffentliche Papiertheater in Deutschland. Im März diesen Jahres muss er die Pforten seines Theaters schließen, eine neue Spielstätte in Köln-Mülheim ist geplant. Fischpott-Redakteur Fabian hat mit ihm über seine Kunst und seine Zukunftspläne gesprochen.
Burgtheater mit Ein-Mann-Ensemble
Beim Wort Papiertheater denkt man zuerst an gutbürgerliche Familien, die im 19. Jahrhundert ihren Kindern zu Weihnachten einen Bastelbogen schenken und die lieben Kleinen legen dann direkt unter dem Weihnachtsbaum mit der Aufführung klassischer Stücke los. Ist das Papiertheater aus der Zeit gefallen?
Ja und Nein. Es ist richtig, die hohe Zeit des Papiertheaters war im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, es war ein Familienspielzeug, es war der Beginn von dem, was wir heute neudeutsch Home Entertainment nennen. Die Menschen hatten damals ja sehr wenig Möglichkeiten sich zu amüsieren, es gab Bücher, es gab Musikinstrumente – wenn man Musik hören wollte, musste man sie damals selber machen – und ansonsten gab es Bilderbogen. Das waren billige Drucke in Form von Lithographien, schon mit bedeutenden Auflagen. Darauf war alles, was die Leute so interessierte und sie auch noch heute interessiert. Wenn man die Yellow Press als Nachfolger dieser Bilderbogen benennt, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Das war also Promi-Hofklatsch, aber auch Reiseberichte, Lieder, Gedichte, Schnurren und Ausschneidebogen. Das war ein besonderes Vergnügen der damaligen Zeit, mit Ausschneidebogen konnte man sich bei schlechtem Wetter den Samstag und Sonntag versüßen.
Sind Ausschneidebogen so etwas wie Papierpuppen zum Anziehen?
Das gehört da mit hinein. An sich boten diese Ausschneidebogen erst einmal die Möglichkeit, kleine Guckkästen zu bauen. Guckkästen, die einem zum Beispiel dreidimensional die Welt zeigten. Damit ergab sich ein 3D-Bild von irgendeiner Gegend, die man noch nicht kannte. Also der erste Fernseher, wenn man so will. Wenn man die Bogen vorher koloriert hatte, dann war es sogar Farbfernsehen. Allerdings ein stehendes Bild, was aber Kino im Kopf erzeugte und dann fing man an, sich über dieses Bild Geschichten zu erzählen, aus der Bibel vorzulesen, was weiß ich nicht alles.
Als Hobby oder gab es damals schon professionelles Papiertheater?
Das war eine Freizeitbetätigung, professionelles Papiertheater hat es im 19. Jahrhundert wohl nicht gegeben. Es gab rumreisende Schausteller, die Guckkästen auf Jahrmärkten zeigten – das war damals eine Attraktion. Und es gab natürlich schon umherziehende Gruppen mit Marionettentheater, wie Pole Poppenspäler von Theodor Storm ja auch belegt, aber Papiertheater, das war häusliches Unterhaltungssegment. Aber gleichzeitig war es auch Bildungsinstrument, weil man aus diesen Guckkästen heraus begann die Papiertheater zu entwickeln. Dann wurde alles gedruckt, was im großen Theater Erfolg gehabt hatte. Opern wurden dann in gekürzter Form zu Hause nachgespielt, mit dem Mittel der Hausmusik oder auch einfach nur in der Schauspielfassung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen vermehrt die Märchen hinzu, die als Ausdruck des Nationalen in Deutschland empfunden wurden. Und es wurde auch auf die aktuelle Literatur abgehoben, zum Beispiel gab es auch Stücke von Jules Verne für Papiertheater zu kaufen.
Gab es damals auch eigene Stücke extra für Papiertheater?
Eigene Stücke hat es auch gegeben, das bekannteste ist die Märchenoper »Hänsel und Gretel« von Engelbert Humperdinck. Die ist zuerst von Humperdinck auf Anregung seiner Schwester Adelheid Wette für das Papiertheater ausgearbeitet worden und später als große abendfüllende Oper neu komponiert worden.
Wie sind sie selber zum Papiertheater gekommen?
Ich war vor über 30 Jahren selbstständiger Buchhändler in Lübeck mit einer kleinen Buchhandlung gegenüber vom Theater. Da wurde mit irgendwann mal – mehr oder weniger als Scherz – ein Papiertheater überreicht. Ich habe das aufgebaut und war entzückt von den Möglichkeiten, auch den optischen mit Beleuchtung und so weiter. Dann dachte ich: „Eigentlich kannst du das auch für deine Kunden anbieten.“ Nicht als Schauspiel, sondern erst einmal als Ausschneidebogen zum Verkaufen. Ich machte mich dann auf die Suche, stieß auf Sammler in Hamburg, die eine große Sammlung alter Bogen hatten und die einen gewissen Teil dieser Bogen nachgedruckt hatten, so dass man sie verkaufen konnte. Dann hatten wir auch sehr schnell eine Ausstellung verabredet im Kunstkabinett und so war ich immer von diesen Dingen umgeben und habe dann natürlich auch irgendwann angefangen selber zu spielen. So ist dann ein neuer Beruf daraus entstanden.
Sind sie der einzige Papierintendant, Papierimpresario in Deutschland?
Es gibt noch mehr Papiertheaterspieler, es werden auch immer mehr. Ich bin aber der einzige, der ein öffentliches Theater für Papiertheater betreibt.
Dieses Jahr ziehen sie von Schloss Burg um nach Köln-Mülheim. Warum?
Ich werde in diesem Jahr nach Köln-Mülheim umziehen, weil diese Räumlichkeiten anderweitig genutzt werden sollen und mir der Mitvertrag gekündigt worden ist. In Köln-Mülheim werden wir ein altes Kino wieder in Betrieb nehmen, aber nicht als Kino sondern als multifunktionale Kulturstätte, wo wir Probenräume anbieten, Papiertheater spielen aber eben auch andere Theaterformen möglich sind.
Passt das Papiertheater in einen Kinosaal? In den hinteren Rängen sieht man doch sicher nichts.
Wir haben da viele Möglichkeiten in kleineren Räumen, weil das Kino sehr großzügig gestaltet ist. Es hat ein großes Foyer, da kann das Papiertheater auch in der kleinen Form spielen und es gibt natürlich auch die Möglichkeit, großes Papiertheater zu spielen.
Ist das dann alles im größeren Maßstab?
Das muss man mal ausprobieren. Ich habe das noch nie gemacht, aber in meiner Phantasie stelle ich zum Beispiel die Stadt Jerusalem als Papierkulisse hin. Darin bewegen sich zum Teil Papierfiguren, zum Teil aber auch Menschen, die dann meinetwegen ein Oratorium von Giovanni Battista Pergolesi aufführen. Oder eben etwas anderes.
Haben sie schon einen Spielplan für die neue Spielstätte im Kopf?
Im Grunde nicht. Der Spielplan wird sich zur Anfangszeit aber nicht so fürchterlich von dem unterschieden, den ich hier in Solingen angeboten habe. Es ist ja noch ein großer Fundus von Märchen und Schauspiel hier im Repertoire. In diesem Jahr neu kommen noch »Der Wildschütz« von Lortzing und Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« dazu. Damit haben wir neue Möglichkeiten, in Mülheim ein Publikum zu erfreuen.
Gibt es Stücke, die sich besonders gut für das Papiertheater eignen? Oder gibt es welche, die sie sich absolut nicht als Papiertheater vorstellen können?
Papiertheater ist Handlungstheater. Wenn sie also Ibsen oder Strindberg im Papiertheater aufführen wollen, wo nur endlose Dialoge oder Monologe gehalten werden, dann ist das fürchterlich langweilig. Die psychologischen Vertiefungen dieser Stücke eignen sich auch nicht besonders gut für Papiertheater. Handlungstheater ist es, wenn es knallt und stinkt. Eine Wolfsschlucht im Freischütz ist natürlich ein gefundenes Fressen für jeden Papiertheaterspieler. Genauso wie eine wunderbare Szene im Zauberwald in Shakespeares Sommernachtstraum. Oder »Käthchen von Heilbronn«. Das ist Handlungstheater pur. Da werden Frauen entführt, da wird ein Schloss niedergebrannt, da werden Speisen vergiftet, der Engel Gottes muss hinterher das ganze Durcheinander in Ordnung bringen und der Kaiser schwängert eine Handwerksfrau. Also, was will man mehr? Das ist das tollste Handlungstheater, das ich mir überhaupt vorstellen kann.
Das klingt schwer nach Spezialeffekten – wie machen sie die?
Da gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten. In der Hochzeit des Papiertheaters hat man zum Beispiel Kolophoniumpulver in eine Kerze geblasen und das gab blitzartige Erscheinungen. Oder man hat Rauch mit Wasserdampf oder Tabakpfeifen erzeugt. Das wurde ja auch vielfach von Erwachsenen gemacht, insofern war das Rauchen da nicht so abwegig. Es wurde aber auch Vaters alte Armeepistole blind geladen und im Wohnzimmer abgeschossen. Es gab Donnerbleche und natürlich auch alle möglichen Schlagwerke. Es gab auch schon eine Dia-Projektion im 19. Jahrhundert. Das war die Laterna Magica. Bemalte Glasscheiben wurden durch eine Kerze von hinten angeleuchtet. Das Ganze wurde durch eine Linse geschickt und auf eine weiße Fläche geworfen und damit konnte im Papiertheater auf einem durchscheinenden Prospekt ein Geist erscheinen. Wenn der Geist verschwinden sollte, musste man nur das Kerzchen in der Laterna Magica auspusten.
Wie viele Leute braucht man denn für ein Papiertheaterstück?
Mindestens einen.
Und die ganze Stimmen? Machen sie die alle selbst?
Das meiste mache ich live. Und insofern muss ich mir für jede Figur in einem Stück eine Stimmlage oder eine bestimmte Form der Sprache ausdenken. Das kann ein Dialekt sein oder eine regionale Einfärbung der Stimme, das kann aber auch hoch, tief oder eine Mittellage sein, das kann auch gestottert sein oder wie auch immer. Ich habe da ein breites Repertoire von Möglichkeiten. Die Kunst besteht darin, alles möglichst so miteinander zu verknüpfen, dass dem Publikum nicht auffällt, dass nur einer hinter der Bühne steht.
Und die Musik? Sie haben wahrscheinlich kein Ensemble, das sie begleitet.
Wir haben kein direktes Begleitensemble, wir haben ein theoretisches Begleitensemble. Das ist ein Kreis von Musikern um mich herum, den ich immer mal wieder bitten darf, für mich Musik einzuspielen. Aber wir haben hier auch mit einer kleinen Quartettbesetzung gearbeitet. Ansonsten greife ich schon einmal selber zum Instrument und spiele etwas ein, wenn es so einfach ist, dass ich es denn bewältigen kann.
Beim Menschentheater gibt es ja Kostümwechsel. Gibt es beim Papiertheater verschiedene Figuren mit unterschiedlichen Kostümen?
Im deutschen Papiertheater war es meistens so, dass jede Figur nur einmal auf dem Ausschneidebogen abgebildet war. Das führt zu kuriosen Erscheinungen. Zum Beispiel hat der Trompeter von Säckingen immer eine Trompete am Maul. Egal, ob der nun isst, sitzt, liebt oder sonst irgendetwas treibt. Wenn er seine Marie küssen will, dann kann man sich vorstellen, dass er mit den Lippen so spitz durch die Trompete hindurchfahren muss, dass er am Ende rauskommt und seiner Marie einen Kuss aufbrämen kann. Oder der Franz Mohr in den Räubern rennt die ganze Zeit mit einem mehrarmigen Leuchter durch die Gegend, egal was er gerade treibt. Im englischen Papiertheater ist das aber ganz anders. Da gibt es also eine Vielzahl von Figurenbogen, wo für jede Szene die Figur in einer anderen Stellung aufgezeichnet ist. Das bedeutet aber für den Spieler eine enorme Herausforderung, weil er sich während der Aufführung durch einen Berg von Figuren arbeiten muss.
Die Figuren selbst bewegen sie mit einem Stäbchen oder einer Stange?
Mit einem Draht, mit einem Stab von der Seite, von oben. In der Regel. Wobei die Figuren in sich eigentlich nicht beweglich sind, aber es gibt durchaus Möglichkeiten, Bewegung ins Bild zu bringen. Zum Beispiel indem man einen Arm beweglich macht. Der wird über einen kleinen Seilzug an einem entsprechenden Haken an der Stange betätigt. Ansonsten ist das Papiertheater – obwohl die Figur stehend ist – keine statische Angelegenheit, da passiert ja ganz viel. Wir arbeiten mit denselben Effekten wie das große Theater auch. Mit sehr unterschiedlicher Beleuchtung. Wir können ganze Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge zaubern, wir können aber genau so gut schlechtes Wetter machen. Wir können einen Vulkan zur Explosion bringen, ohne dass dabei irgendetwas kaputt geht – es gibt noch vielerlei Möglichkeiten, Leben auf die Bühne zu bringen.
Ist Papiertheater kein Anachronismus, etwas aus einer vergangenen Zeit?
Darüber hat man lange gestritten. Es ist kein Anachronismus. Papiertheater ist immer so aktuell, wie es gerade gegeben wird. Man könnte genau so gut sagen, das Fahrrad wäre ein Anachronismus und die Fahrradindustrie lebt prächtig mit diesem Anachronismus. Genauso ist es mit dem Papiertheater. Wenn sie heute hingehen und das Papiertheater entsprechend einsetzen, dann ist das ein völlig zeitgemäßes Instrument der Unterhaltung und auch eine Möglichkeit zum Fähigkeitenerwerb. Ich gebe Workshops und arbeite gerne mit Schulen, mit Lehrerseminaren und dergleichen zusammen weil die Betätigung mit dem Papiertheater sehr viele Dinge lehrt: Erstens mal Sprechen vor der Gruppe. Diese Scheu, vor einer Gruppe frei aufzutreten, die legt man ganz schnell ab. Das funktioniert aber vor allem deswegen, weil man mit der Figur auf der Bühne spielt. Die Bühne und die Figur sind im Fokus und der Spieler, der hinter der Bühne steht ist gar nicht mal derjenige, der eventuell hinterher belächelt wird. Dadurch verliert man die Scheu. Genau so ist es mit dem sozialen Miteinander. Wenn man in der Schule Papiertheater spielt, dann ist das eine Gruppenangelegenheit und da muss man natürlich aufeinander Rücksicht nehmen. Da muss man auch Texte memorieren. Da muss man all die Dinge tun, die man im großen Theater auch tut. Das heißt soziales Miteinander. Dann muss ja vorher gebaut und gebastelt werden. Das heißt, die Feinmotorik wird geschult. Das Denken in Konstruktionen wird geschult. Man lernt etwas über Licht und Beleuchtung und dergleichen. Alles tagespraktische Dinge, die man im späteren Leben prima gebrauchen kann. Nicht zuletzt auch in der Anwendung für den Fremdsprachenunterricht ist das Papiertheater hochinteressant. Ich mache gerade für eine fünfte Klasse ein ganz kleines Stück fertig und über das Spiel vergessen die Kinder, diese Fremdsprache überhaupt als Fremdsprache zu begreifen.
Beim Sprechen kommt es ja auch auf die Haltung an, wenn man gut klingen will. Wenn man hinter der Bühne steht, vielleicht sogar gebückt und die Figuren bewegt – muss man besonderes Sprechtalent haben oder muss man das lange üben?
Erstens mal spielt man mit dem Papiertheater normalerweise in kleineren Räumen – das heißt, man muss nicht das Stimmvolumen aufbringen, das man in einem großen Theater haben muss, um über die Rampe zu kommen. Zum zweiten ist natürlich es in der Vorbereitungsphase unabdingbar, zu proben – ohne Proben geht gar nichts, auch nicht im Papiertheater. Da lernt man ja schon, mit sich selber hauszuhalten, also seine Kräfte einzuteilen. Bei einem kurzen Stück von 20 Minuten kommt es nicht darauf an, aber wenn ich anderthalb Stunden Faust spiele, dann muss ich das stimmökonomisch gestalten. Sonst bin ich spätestens in der vorletzten Szene nicht mehr in der Lage, noch eine Frauenstimme abzuliefern. Das lernt man aber mit der Zeit. Da habe ich auch in den 35 Jahren, in denen ich jetzt Papiertheater spiele, immer dazugelernt.
Haben sie ein Wunschstück? Was möchten sie auf jeden Fall noch ins Papiertheater bringen?
Die Liste der Wunschstücke ist recht lang. Eines erfülle ich mir gerade, das ist der Sommernachtstraum. Im Opernbereich ist da noch so etliches zu entdecken, ich bin immer auf der Suche nach unbekannten Stoffen, die man eventuell einmal bearbeiten könnte. Nicht unbedingt, weil ich der Meinung bin, dass sich das schneller verkauft, im Gegenteil, man muss heftig daran arbeiten – aber etwas Neues zu entdecken macht mehr Spaß.