Das Märchen der Märchen
König Lustmolch und das blutige Ende
Disney ist schuld. Der Multimedienkonzern der sauberen Familienunterhaltung hat aus Märchen harmlose Geschichten aus der Sagenwelt gemacht, Folklore-Fantasy für Kinder. Doch wenn wir einen Blick auf die Geschichten aus alter Zeit werfen, genau hinsehen und zwischen den Zeilen lesen, erinnern wir uns wieder daran, dass viele Märchen geradezu gespickt sind mit absurden, grausamen und kruden Elementen. Vulgo, dass sie ziemlich kranker Scheiß sind.
Das hat auch der Filmemacher Matteo Garrone entdeckt, als er mit Das Märchen der Märchen drei Episoden aus dem Pentamerone des italienischen Autors Giambattista Basile aus dem 16. Jahrhundert verfilmt hat. Doch er macht keinen Horrortrash aus Basiles Märchen, ganz im Gegenteil. In Bildern atemberaubender Schönheit präsentiert Garrone höfische Hochzeitsbälle und Königsbeerdigungen, die in Szenen mit Sex, Gewalt und Absurdität gipfeln. Eines der größten Pfunde der Inszenierung ist dabei die Szenerie. Seien es eine bizarr-felsige Küstenlandschaft, ein Schloss thronend auf der äußersten Klippe eines windschiefen Hügels oder das achteckige Castel del Monte von Friedrich II. Der komplett in Italien gedrehte Film schwelgt in den herrlichen Landschaften, die das Land hergibt. Dazu strahlen die perfekten Barock-Kostüme Pracht und Dekadenz aus.
Endlich mal wieder ein Episodenfilm
Herausragend bei Das Märchen der Märchen ist die Besetzung. Salma Hayek spielt eine Königin, die alles für ihren Kinderwunsch opfert und ihren Sohn für immer behalten will. Vincent Cassel verströmt als königlicher Lustmolch eine fast schon körperlich zu spürende Schmierigkeit. Toby Jones, spätestens seit seiner Rolle als Truman Capote in Infamous in der Riege der ganz großen Schauspieler, zieht als verschrobener König die Gesellschaft eines Riesenflohs der seiner Tochter vor.
Wie es sich für Märchen gehört, spielen die Königinnen und Könige nicht die Hauptrollen. Stattdessen drehen sich die Episoden um zwei alte Färberinnen (Shirley Henderson und Hayley Carmichael), einen Prinzen und einen Hofmagdssohn (die Zwillinge Christian und Jonah Lees) und eine Prinzessin (Bebe Cave), die einem Oger in die Hände fällt. Auch dieses Monster ist mit dem riesigen Guillaume Delaunay trefflich besetzt. Und überhaupt, die Monster. Das Kreaturendesign ist auf eigene Art wunderschön, wenn vielleicht auch nicht perfekt animiert. Der albinotische Wasserdrache (mein bisheriges Lieblingsfilmmonster des Jahres 2015) gleicht einem zum Leben erweckten Seeungeheuer von einer mittelalterlichen Karte. Der Riesenfloh wirkt wie eine lebendige Version dessen, wie man sich vielleicht einen Floh vor der Entdeckung des Mikroskops vorgestellt hat. Und selten sah man so eine bösartige Riesenfledermaus.
Neu erzählt statt dark & edgy
Bei der Inszenierung von Märchen stehen die Verantwortlichen oft vor der Wahl, alles zu dekonstruieren oder einfach nur neu zu erzählen. Die Dekonstruktion wird oft gewählt, weil Märchen scheinbar bekannt sind und viel Platz für Neuinterpretationen bieten. In Das Märchen der Märchen bleibt Garrone nah an den Vorlagen – auch wenn zum Beispiel Der Floh einen etwas feministischen Touch gewinnt. Wer die Originalmärchen nicht kennt (sie sind komplett online), kann sich überraschen lassen.
Garrone nimmt die Geschichten aus dem Pentamerone ernst. Wenn in US-amerikanischen Produktionen Märchen als grimme Fairy Tales möglichst düster und edgy neu aufgelegt werden, wirkt das oft überzogen an der Grenze zur Peinlichkeit. Das Märchen der Märchen dagegen lässt sich Zeit zum Erzählen, so dass das Furchtbare um so schockierender wirkt, ganz ohne Fanfaren und dräuende Musik a là Hans Zimmer. Nicht die Schockeffekte, sondern die Geschichte steht im Mittelpunkt.
Früher gab es keine PoC
Eines stört die Eleganz des Meisterwerks. Garrones Märchenwelt scheint komplett von weißen Personen bevölkert zu sein. Das hat leider eine traurige Tradition in Märchen/Fantasy-Welten, ist in Das Märchen der Märchen aber komplett unverständlich. Zum einen gibt es eine Schwarze (OK, eine böse Sklavin) in der Rahmenhandlung des Pentamerone, zum anderen gehören im 16. Jahrhundert, in der die Handlung optisch angesiedelt ist, nicht-weiße Menschen als Höflinge oder Bedienstete zum Temporalkolorit. Die blütenweiße Märchenwelt ist also gleich doppelt unverständlich.
Trotzdem ist Das Märchen der Märchen eine Empfehlung wert. Wer eine Märchenverfilmung für Erwachsene sehen will, jenseits der tendenziell debilen öffentlich-rechtlichen Versionen, der verharmlosenden Disney-Adaptionen oder der zur Actionfantasy umgebauten Mainstreamversionen ist hier richtig.
Disclaimer: Fischpott hat eine Einladung zur Pressevorführung im Residenz, dem wohl luxuriösesten Kino in Köln und Umgebung erhalten und den Film dort im englischen Originalton gesehen.
Das Pentamerone von Giambattista Basile im Projekt Gutenberg