Der geheime Garten
Verzogene Gören haben die anglo-indischen Kolonialherrscher in Massen hervorgebracht, lebensuntaugliche Wesen, die ohne Kofferträger keinen Stein zu wenden wussten. Aber sie verstanden sich darauf, Mitmenschen zu schikanieren. Die Quittung kam nach dem 15. August 1947, als der Subkontinent mit der Unabhängigkeit in zwei verfeindete Staaten zerfiel und den früheren Herrschern dringend zu raten war, sich in ihrer alten Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Freedom at Midnight nannten die Erfolgsautoren Collins/Lapierre ihren detailreichen Rückblick auf das gruselige Geschehen rund um die Teilung der einst so majestätischen Kolonie. Salman Rushdie hat mit Mitternachtskinder einen anderen, teils skurrilen Blick auf das große indische Drama geworfen. India Remembered von Pamela Hicks, Partition Voices von Kavita Puri und Der Zug nach Pakistan von Kushwant Singh – sie alle kreisen fasziniert um das große Inferno der ersten Nachkriegsjahre in Südasien.
Kleiner Lord, geheimer Garten
Marc Munden rollt in seinem Fantasy-Film Der geheime Garten das Thema nochmals auf, geht aber einen kuriosen Weg. Er bindet 1947 ein, aber die Romanvorlage von Schriftstellerin Frances Hodgson Burnett, auch Autorin von Der kleine Lord, stammt aus dem Jahr 1911, als sich die Briten in Indien noch fest im Sattel wähnten. Da die Protagonistin Mary Lennox im Roman wie auch in der aktuellen Filmversion ihre Eltern und ihr Kindermädchen nicht etwa durch Unruhen, sondern durch die Cholera verliert und nur nach Yorkshire wechseln muss, fragt man sich sehr nach dem Sinn der Zeitversetzung. Als Randnotiz: Am 3. April 2020 sollte der Film veröffentlicht werden, doch verschob man den Termin wegen der Pandemie auf den 14. August 2020 – pünktlich also zum 73. Jahrestag der Unabhängigkeit. Nur dass von allen Wirren jener Zeit lediglich ein atmosphärischer Einstieg kündet.
Yorkshire Dales, Wiltshire und Wales sind dann auch die wesentlichen Drehorte, nicht der Punjab, Bengalen oder Kaschmir. Als Mary (Dixie Egerickx) nach Entsetzen und Trotzanfällen eingesehen hat, dass ihr jetzt niemand mehr den Hintern nachtragen wird, beginnt sie ihre neue Heimat zu erkunden und erlebt dabei fast so Queres wie Alice im Wunderland. Das gewaltige, malerisch bröckelnde und spärlich möblierte Manor House, in dem Mary Aufnahme bei ihrem Onkel gefunden hat, gibt den Raum für einen Kunstgriff: Die Darsteller, insbesondere die Kinder, erscheinen auf wundersame Weise verloren in der Weite dieser Architektur, die oft in kaltes Licht getaucht ist. Ein weiteres Mal zeigt da ein Kinofilm, dass keine ausgelutschten Special Effects erforderlich sind, um Traumwelten zu erschaffen.
Wahrheit, Traum: Alles Zufall
Und so ist das ja auch im Leben: Mit und in uns träumt immer eine Metaebene, in der alles das passiert, was als Alternative zur Realität passieren könnte, was einmal passiert ist, was möglicherweise passieren wird. Irreal nur insofern, als die Wahrheit mehr oder weniger zufällig eben anders ist als der Traum. Für Mary und ihren Cousin Colin (Edan Hayhurst) spielt die Metaebene in ihrem „Geheimen Garten“, einem Paradies, auf das sie zufällig gestoßen sind und in dem ihre Mütter die besten Jahre ihres Lebens verbrachten, bevor das Schicksal sie jung dahinraffte. Dieser „Secret Garden“ bedeutet auffällig genau das, was in Bruce Springsteens gleichnamigem Song anklingt: Es ist der Ort, an den man sich nicht erinnern und den man nie vergessen kann. „Where everything you need will always stay a million miles away.“
Das Gute daran: All diese herrlichen Bilder in Der geheime Garten entstammen keiner Computeranimation. Solche Gärten existieren wirklich, dank Golfstrom sogar in Europa. Auch die Riesenblätter, unter denen die Kinder wie Zwerge verschwinden, gedeihen in englischen Gärten. Botaniker nennen die Pflanze Gunnera manicata, ihre Heimat ist Chile. Mit solchen Bildern kann Fantasy zur Abwechslung auch mal ermutigend lebensnah auftreten, genährt durch eine Romanvorlage, in der deutlich mehr Tiefe steckt als im sinnarmen Gesäusel um Harry Potter.
Veröffentlichungstermin: 25. Februar 2021 (Blu-ray, DVD und digital). Wir haben eine DVD zur Ansicht erhalten.