Meister Leonhard
Gustav Meyrinks Schauernovelle in neuem Gewand
„Unbeweglich sitzt Meister Leonhard in seinem gotischen Lehnstuhl und starrt mit weit offenen Auge gerade aus.“ Der Beginn einer Schauernovelle, die das Leben des Meisters Revue passieren lässt. Aufgewachsen in einem Schloss, unter der Fuchtel seiner bis zum Wahn ruhelosen Mutter, versucht er vergeblich einen Kontakt zu seinem verkrüppelten Vater aufzubauen während seine Leidenschaft zum Bauernmädchen Sabine erblüht. Leonhards ohnehin schon unglückliches Leben wird aufgerüttelt durch Tod, die Entdeckung eines schauderhaften Familiengeheimnisses und Enthüllungen über das verbotene Wissen, das sein Vater angehäuft hat. Er zieht in die Welt hinaus, sucht den Templer-Hochmeister Jacob de Vitriaco und begegnet dem Quacksalber Doktor Fallendien.
Gustav Meyrinks Novelle mutet an wie eine Tableau archetypischer Elemente des Schauerromans, der Gothic Novel: Motive wie die Templer, Satanismus, Elternmord, Wahnsinn und Inzest; Schauplätze wie das altes modrige Schloss, der nebelige Wald im Mondlicht, die Gruft der Schlosskapelle; Protagonisten wie der geplagte Erbe eines uralten Geschlechts, die wahnsinnige Schlossherrin, das unschuldige Bauernmädchen, das Neugeborene mit dem Blutmal auf der Stirn und der luziferische Quacksalber – alles was das Herz des schwarzen Romantikers begehrt.
Trotz aller überbordenden barocken Düsternis wird Meister Leonhard nie zu Selbstparodie. Leserinnen und Leser bleiben dem zerrütteten Geist des Protagonisten dank Meyrinks packender Erzählkunst stets auf den Fersen. Ein Logenplatz auf der Reise zwischen Wahn und Seelenfrieden ist ihnen sicher. Dabei entwickelt sich am Ende sogar so etwas wie ein versöhnliches Ende. Mit Meister Leonhards Erkenntnis vom gemeinsamen Ich, von dem alle Wesen nur eine Facette sind, klingt in der Erzählung des Esoterikers Meyrink der mittelalterliche Meister Eckhart und seine Idee vom göttlichen Seelengrund an. Insgesamt erinnert die Novelle in ihrem Aufbau und ihrer Erzählung an die weitaus berühmteren Elixiere des Teufels von E. T. A. Hoffmann, ist aber weitaus lesbarer.
Die neueste Ausgabe aus dem Ch. A. Bachmann Verlag präsentiert nicht nur die Novelle, sondern kommentiert sie auch, beleuchtet ihre Veröffentlichungsgeschichte und Rezeption, legt einen Forschungsbericht ab und vertieft die literaturwissenschaftliche Bedeutung der Motive Inzest und Templer sowie Okkultismus. Die kritische Textausgabe ist das beeindruckende Ergebnis der Arbeit einer Gruppe Studierender am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ruhr-Uni Bochum. Wer neugierig auf einen fast vergessenen Klassiker deutscher Phantastik ist, sollte sich Meister Leonhard für 7,80 € zulegen.
Fischpott hat ein kostenfreies Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten.
Meister Leonhard im Projekt Gutenberg