Century: 2009 by Alan Moore & Kevin O’Neill
It’s Been a Hard Century’s Night!
Mit „Century: 2009“ beenden Alan Moore und Kevin O’Neill den dritten Teil ihrer Reihe „League of Extraordinary Gentlemen“. Fischpott beurteilt, wie die Liga sich im 20. Jahrhundert geschlagen hat.
13 Jahre ist es her, dass Moore und O’Neill erstmals Protagonisten der Abenteuer-, Schauer- und Science Fictionliteratur des 19. Jahrhunderts vereinten. In zwei Bänden (à vier Einzelheften) durfte man verfolgen, wie Allan Quatermain (aus den Romanen H. Rider Haggards), Mina Murray („Dracula“), Kapitän Nemo, Dr. Jekyll/ Mr. Hyde und der Unsichtbare (aus H. G. Wells gleichnamigem Roman) England vor kriminellen Genies und außerirdischen Invasoren beschützen. Die Reihe erreichte schnell Kultstatus, was 2003 zu einem Film führte, der zu den größten Verbrechen Hollywoods gezählt werden darf. 2007 legten beide mit „The Black Dossier“ ein komplexeres Buchexperiment nach, welches in der Rahmenhandlung zwei ehemalige Mitglieder durch das London der 1950er gegen eine korrumpierte Liga unter James Bond führte. Dieser Band bleibt aufgrund von Rechtsstreitigkeiten und Moores schwindende Kompromissbereitschaft im Umgang mit Großverlagen deutschen Lesern voraussichtlich vorenthalten.
Stieß „The Black Dossier“ bei vielen Fans auf verhaltene Reaktionen (was nicht zuletzt daran lag, dass es sich hierbei nicht um eine straighte Abenteuergeschichte handelt), holt „Century: 1910“ den Leser in einem recht gewohnten Setting ab: die viktorianische Epoche hat noch nicht wirklich geendet und eine neue Liga mit zwei alten Bekannten gibt sich der Dekadenz des Fin de siècle hin. Nicht ohne Zutun der Helden beschließt der Schwarzmagier Oliver Haddo (literarisches Abbild Aleister Crowleys in Somerset Maughams „The Magician“) den Antichristen zu beschwören, während die Liga einen Vorgeschmack der sozialen Veränderungen bekommt, die in den folgenden 100 Jahren auf England zukommen werden. Über 3 Teile (1910, 1969 und 2009) wird die Entwicklung eines Jahrhunderts nachgezeichnet, welches den Weg von der klassischen viktorianischen Epoche zur Gegenwart in der Welt der Fiktion nachzeichnet.
„Century 1969“ steht im Zeichen der Swinging Sixities. O’Neills Artwork ist bunt, großflächig, überladen und spiegelt die Epoche meisterhaft wider. Leider mangelt es zunächst am Plot. Noch immer steht die Geburt des Antichristen bevor und noch immer versucht die Liga, diese zu verhindern. Jedoch kommt kaum eine konventionelle Handlung zustande, was jedoch den surrealen britischen Science Fiction-Texten der Zeit entspricht (auch Michael Moorcock bekommt, wie sein Held Jerry Cornelius, einen Gastauftritt). Sex, Drogen und allgemein neue Freiheiten lenken die Protagonisten unablässig ab, während der Tod von Basil Fotherington-Thomas (Figur einer vergessenen Internats-Jugendbuch-Reihe und Gegenstück zum Rolling Stones-Gitarristen Brian Jones) für Aufruhr sorgt und Jack Carter (in Form der Darstellung durch Michael Caine in „Get Carter“) durch die Londoner Unterwelt stiefelt. Am Ende ist es in erster Linie das Glück, das die Apokalypse noch einmal aufschiebt.
Erschwerend kommt hinzu, dass mit einer Annäherung an die Gegenwart die Menge an englischen Figuren für die Handlung schwieriger wird und sich zudem das Urheberrecht heikler ausgestaltet. So muss als Antagonist Dr. Felton herhalten, eine Figur aus Robert Irwings recht neuem Roman „Satan Wants Me“, der bei Leibe nicht an einen Moriarty oder Marsianer heranreicht, während Figuren wie der junge Lord Voldemort derart verschlüsselt sind, dass sie kaum ohne Hilfe des Internets zu erkennen sind (Zum Glück ist hier jedoch eine enthusiastische Gruppe von Usern damit beschäftigt, JEDE Anspielung der Geschichte zugänglich zu machen, siehe in der Linkliste weiter unten). Ein kleines Highlight des Bandes ist der Epilog im Jahr 1977, die Zeit des Punk Rock, in der Moore und vor allem O’Neill das hoffnungslose Ende einer hoffnungsvollen Ära verdeutlichen.
Nun ist mit „Century: 2009“ der Abschluss der Reihe in den USA erschienen und man merkt, dass Moore sich in der Gegenwart eher unwohl fühlt. Orlando, letztes Mitglied der Liga, geht erneut auf die Suche nach seinen verschollenen Kollegen um doch noch das drohende Armageddon aufzuhalten. Anspielungen, vor allem an TV-Serien, finden sich noch, jedoch ohne einen gewachsenen Kanon sind sie nicht ansatzweise so effektiv. Nur wenn der Comic die Fäden älterer Referenzen wieder aufgreift, erreicht er zielsicher die konstante Qualität der Vorgänger (hier sind Freunde alter britischer TV-Serien klar im Vorteil und mancher Fan von Moore wird das Norsefire-Symbol aus „V for Vendetta“ erkennen … oh, und Duff Beer und Doctor Who … und Little Britain … OK, vielleicht funktioniert es doch ganz gut). Wer die vorherigen Bände gelesen hat (und Moores kritische Haltung zu gegenwärtigen Franchises kennt), wird zudem kaum überrascht sein, wer letztendlich als Antichrist das Ende der Welt herbeiführen soll. Ein weiteres verbindendes Element, die Musik (1910: Die Dreigroschenoper, 1969: das Hyde-Park-Konzert der Rolling Stones, 1977: die Anspielung auf die Sex Pistols), wirkt 2009 mit einem Lady Gaga-Abbild als Chor leider bemüht (oder es ist eine Anspielung, die der Rezensent auf Teufel komm raus nicht verstanden hat … obwohl er Lady Gaga eigentlich auch ganz cool findet). Letztendlich entschädigt gerade das Ende für vieles, gibt einem zu denken und lachen. In der Gänze ist „Century“ vielleicht weniger packend und unterhaltsam als die ersten Geschichten der Liga im späten 19. Jahrhundert, aber trotz allem noch wunderbar intelligente und verstörende Unterhaltung. Leser, die „The Black Dossier“ nicht kennen, sind leider im Nachteil, da vor allem in „2009“ viele Fäden wieder aufgenommenen werden, die der Comic selbst kaum erklärt. Es ist nicht zu viel verraten: die Apokalypse wird nicht aufgehalten, sondern bedeutet – ganz Alan Moore – nur das, was ohnehin die ständige Grundeigenschaft der Welt ist – Veränderung. Das ist es, was „Century“ zudem lesenswert macht, die Idee der Veränderung, indem eine Geschichte über drei Epochen in drei (eigentlich sogar vier) verschiedenen Stilen erzählt wird. Und wer Spaß daran hat, detektivisch jeden versteckten Hinweis in einem Comic zu suchen, wird sowieso auf seine Kosten kommen.
Linkliste:
Anmerkungen zu Century:1910
Anmerkungen zu Century:1969
Anmerkungen zu Century:2009
PS: Wie auch schon und den ersten Geschichten, gibt es mit „Minions of the Moon“ auch hier wieder einen illustrierten Prosatext im Anhang, der sich hier an Moores Steckenpferd, der avangardistischen Science Fiction der 60er, orientiert. Wie gewohnt ist dieser gut, verliert aber im Vergleich zum Comic. Es bleibt zu hoffen, dass Moore mit seinem seit Jahren angekündigten Mammutprojekt, einem Roman mit dem Titel „Jerusalem“, seine literarische Arbeit endlich auf das Niveau seiner Comics bringen kann.
PPS: Moore und O’Neill haben mit „Tales of The League of Extraordinary Gentlemen“ bereits ihr viertes Projekt angekündigt. Man darf gespannt sein …