Chihiros Reise ins Zauberland

Ein kleines Mädchen verliert seine Eltern, muss sich einem Badehaus verdingen, Kohle schleppen, reift seelisch und verschafft sich durch Mut und Geschicklichkeit schließlich ein Happy End.
Was nach der reinen Fallbeschreibung wie eine Geschichte von Charles Dickens klingt wird durch Götter, Hexen und andere Fantasiewesen zu einer Zauberreise in die japanische Mythologie. Denn die Hauptfigur Chihiro ist eigentlich ein ganz normales Mädchen unserer Gegenwart. Im falschen Moment abgebogen landet sie mit ihren Eltern an einem Ort, an dem sich die acht Millionen Götter Japans1 mal so richtig gehen lassen: Im Badehaus der Hexe Yubaba. Doch das ist kein Ort für Menschen. Angelockt vom herrlichen Essen setzen sich Chihiros Eltern an einem reich gedeckten Tisch nieder und werden für ihre Völlerei an verbotenen Leckereien in Schweine verwandelt.
Vor dem folgenden abendlichen Trubel der ins Badehaus strömenden Götter rettet der Junge Haku die verängstigte Chihiro. Er rät ihr, Yubaba um eine Anstellung zu bitten und ihren eigenen Namen nie zu vergessen. Denn als es Chihiro schließlich schafft, zur Hexe vorzudringen, wird ihr Name auf Sen zusammengeschrumpft2. Chihiro beginnt ihre Arbeit im Badehaus, begegnet dem gefährlichen Ohngesicht, Yubabas Zwillingsschwester Zeniba und findet Hakus Geheimnis heraus.

Geschickt greifen Japans Anime-Meistererzähler Hayao Miyazaki und sein Team auf altbekannte Motive aus Märchen und Sagen3 zurück und weben daraus eine neue, wunderschöne, auf ihre stille Art beeindruckende Geschichte. Mit Blick fürs Detail werden dutzende Fabelwesen und das prächtige Badehaus inszeniert, jenseits aller Gut-Böse-Dychotomie, die wir aus handelsüblicheren Kinderfilmen kennen. Trotz aller Märchenhaftigkeit zeigt Chihiros Reise ins Zauberland einen berührenden Realismus, wenn die Hauptfigur verzweifelt Rotz und Wasser heult oder ganz verdreckt von ihrer Arbeit kommt.

Chihiros Reise ins Zauberland hat über 30 internationale Filmpreise gewonnen, vom Oscar bis zum Goldenen Bären. Und das mit Recht. Phantastisch mit ganz eigenem Stil, unaufgeregt und trotzdem mitreißend, gefühlvoll und einfallsreich, wunderschön und kindgerecht, erwachsenenkompatibel und tiefgründig, niedlich und ehrfurchtgebietend – all das trifft auf Chihiros Reise ins Zauberland zu. Deswegen ist es auch sehr zu begrüßen, dass Universum Film Miyazakis Meisterwerk vor kurzem in der Limited Collector‘s Edition Edition wieder herausgebracht hat. Für Sammelnde ein Muss, für Filmfreund*innen auch.
- Oder was man im Shintoismus unter Kami versteht: Götter, Geister, Dämonen, Naturwesen, Fabeltiere, etc. ↩
- Dabei streicht Yubaba das zweite Kanji, so dass nur noch eines übrigbleibt: 千 kann als Chi oder Sen gelesen werden. ↩
- Detailliert nachzulesen in der Diplomarbeit Der Einfluss von Märchen und Mythen auf Hayao Miyazakis „Sen to Chihiro no kamikakushi“ von Michaela Rubesch. ↩