Der Junge und das Biest
Der japanische Animationsfilm Der Junge und das Biest (Originaltitel Bakemono no ko – Monsterkind[er]) ist 2015 zum ersten Mal über die große Leinwand geflimmert und hat, wie die vorherigen Filme von Mamoru Hosoda (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang, Summer Wars oder Ame und Yuki), award- und festivalmäßig abgesahnt. Wie bei der im eingedeutschten Titel versteckten Anspielung auf Die Schöne und das Biest geht es in Der Junge und das Biest um eine ungewöhnliche Bekanntschaft zwischen Mensch und humanoidem Wesen – in diesem Fall nicht romantischer Natur. In Verbindung mit dem Filmplakat, auf dem ein bipedisches Bärenwesen und ein halb so großer Menschenknirps zu sehen ist, drängt es sich auf, eine Art Buddy-Movie zu erwarten. Und damit liegt man auch richtig.
Doch auch in Hosodas neustem Werk spielt das Erwachsenwerden und die Interaktion des Heranwachsenden mit einer ‚fremden‘, oder ‚verkehrten‘ Umwelt eine wichtige Rolle. In diesem Fall, kann man sagen, sogar die Hauptrolle. Neben dem offensichtlichen Buddy-Thema kann man dem Film somit also durchaus auch den ‚Chihiro-Stempel‘ aufdrücken. Man ist zunächst sogar fast versucht zu sagen: Chihiros Reise ins Zauberland in männlicher Version. Ein kleines bisschen wie Chihiro trifft Karate Kid. Doch Obacht: das Werk hat durchaus mehr zu bieten, als ein eventuell kostengünstigerer Abklatsch eines erfolgreiche Klassikers zu sein!
Zur Story
Ren ist neun Jahre alt und verliert seine Mutter bei einem Autounfall. Der Vater hat längst das Weite gesucht und es bleiben nur noch gesichtslose Verwandte, die den verstörten Jungen aufnehmen könnten. Ren ist damit aber ganz und gar nicht einverstanden. In einem emotionalen Ausbruch mit ganz viel „Ich hasse euch alle!“ türmt das ‚Monsterkind‘ und rettet sich ins abendliche Gedränge Shibuyas (Shopping- und Ausgehviertel in Tokyo). Verheult, erschöpft und immer noch sehr angriffslustig trifft er auf zwei vermummte Gestalten und muss bei genauerer Betrachtung feststellen, dass diese Schnauzen anstelle menschlicher Gesichter haben. Irritiert und orientierungslos rennt er als nächstes der Polizei in die Arme und entkommt nur mit Mühe. Ren beschließt auf seiner Flucht kurzerhand den beiden Kuttenträgern in ein schmales Gässchen zu folgen. An dieser Stelle wird der Film surreal und das Setting wechselt vom wimmelnden modernen Shibuya zum wimmelnden, romantisch-historisch wirkenden Jutengai, einem verborgenen Viertel Tokyos, in dem tausende von Tier-Mensch-Hybriden leben und der sportliche Zweikampf ganz traditionell Politik ersetzt.
In Jutengai tobt gerade ein kampfsportliches Wettrüsten zwischen zwei Bewerbern auf den neuen Posten des Großmeisters (der aktuelle, ein alter weiser Kaninchenopa, darf sich eine Götterposition aussuchen und verlässt die Halbgott-Zwischenwelt – so läuft das halt). Titelanwärter in spe, Iozen, ist pflichtbewusst, organisiert, gepflegt aussehend, liebender Familienvater. Herausforderer Kumatetsu grobianisch, wild aussehend, ungehobelt und hat so gut wie keine Fans, geschweige denn Söhne oder Schüler.
Wer von den beiden Heroen trifft wohl zufällig auf das verlorene Menschlein und nimmt sich des Problems an? Richtig! Das Monsterkind, spontan in ‚Kyuta‘ umbenannt, bekommt einen waschechten Monsterziehvater. Kumatetsu (hat ‚Kuma‘ – Bär – im Namen und sieht auch so aus) versucht halbherzig, häufig rabiat, gerne alkoholisiert und aufbrausend den kleinen Jungen als Schüler auszubilden. Dabei geraten die beiden recht starrköpfigen Charaktere regelmäßig aneinander. Die vielfältigen Versuche werden scharfsinnig aus zwei unterschiedlichen Perspektiven kommentiert von dem Affen-Hybriden Tatara und dem Schweine-Mönch Hyakushuubou, den zwei einzigen Freunden, die Kumatetsu in Jutengai zu haben scheint. Die beiden fungieren auch von Beginn des Films an als Erzähler der Geschichte.
Ren to Kyuta no Kamikakushi?
Also: kleiner japanischer Junge wird in fremde, mystische Welt gesaugt und lernt dort allerhand, insbesondere erwachsen zu werden. Klar, das Grundprinzip kennen wir natürlich von Alice im Wunderland. Insbesondere ist es jedoch das Studio Ghibli Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland (im Original: Sen to Chihiro no kamikakushi – das magische Verschwinden von Sen und Chihiro), an das wir erinnert werden. Der Junge und das Biest wirkt fast wie eine männliche Perspektive auf das Problem des ‚Weggezaubertwerdens‘. Um ein paar Parallelen aufzulisten: Kleiner Junge, statt kleines Mädchen, von Shibuya in ein magisches, knallbuntes Viertel, statt aus der Provinz in ein magisches, knallbuntes Badehaus, grummeliger Hau-Drauf-Bär, statt garstige alte Hexe, ‚Ren‘ wird zu ‚Kyuta‘, statt ‚Chihiro‘ zu ‚Sen‘, Buddy-Comedy, statt zarte erste-Liebe-Romantik, sogar eine Art No-Face-Motiv gibt es hier. Außerdem geht es in beiden Fällen darum, ordentlich Schrubben und Spülen zu lernen. Und darum, erwachsen zu werden, natürlich!
Doch: Der Junge und das Biest verlässt das Chihirogleis und macht etwas Neues. Denn der Menschenwelt, soviel sei verraten, wird nicht gänzlich der Rücken gekehrt für die restlichen 110 Minuten der Filmlaufzeit. Und wieder in der Menschenwelt angekommen, geht es dann nicht mehr vordergründig um Kampfsportturniere, alte Zaubermeister und Götternachfolgen, sondern um verpasste Schulabschlüsse, Scheidung, ein bisschen Bürokratie, den zweiten Bildungsweg; das Übliche eben. Das Übliche, das man eigentlich nicht in einem Film dieser Art erwarten würde. Alle Daumen hoch dafür!
Interpretationssachen
Zu Beginn: eine wirklich nur milde Spoilerwarnung für die nächsten Sätze.
Ebenfalls ganz ähnlich wie bei Chihiro und Alice und sonstigen Geschichten mit Kindern, Junkies, Verrückten oder anderen unzuverlässigen Gesellen, die in magische Parallelwelten gesogen werden, ist es dem Zuschauer/Leser/Spieler überlassen, das Geschehen im Film zu deuten. Im vorliegenden Werk läuft Ren als nicht einmal Zehnjähriger von Zuhause weg. In einer extrem stressigen Situation tut sich urplötzlich das Tiermonsterviertel Jutengai auf. Ren ist acht Jahre lang dort gefangen, aber findet genauso unerwartet zurück in die Menschenwelt im Teenageralter. Dem nun Siebzehnjährigen ist es von da an möglich, frei zwischen den Welten hin und her zu wechseln und er nimmt den nun orientierungslosen Zuschauer dabei ganz ohne Vorwarnung oder Erläuterung bei seinen Sprüngen mit. Es beißen einem Fragen und Zweifel in die Beine: Gibt es Jutengai möglicherweise gar nicht wirklich? Und wenn nicht, könnte ein Junge acht Jahre alleine, in einer inneren Fantasiewelt verkapselt, in den Straßen Tokyos überleben, ohne aufgelesen zu werden? Herrlicherweise – das verraten wir dem aufmerksamen Leser nun auch noch – bleibt der Erklärbär, vielleicht eingeschüchtert von Bärenmeister Kumatetsu, im Sack und hält den Mund. Gut so! Erklärungen werden im Großen und Ganzen doch sehr überschätzt. Eine unerklärbare Welt unerklärbar zu lassen, auf Auflösung zu verzichten, oder direkt zu verneinen, dass überhaupt etwas einer Auflösung bedarf – das hat sich Der Junge und das Biest auch löblicherweise von Chihiro abgeguckt. Es ist zwar nicht so, als wären Auflösungen immer doof, aber meistens müssen diese schon sehr ausgefuchst sein, um zu begeistern.
Man kann, um die Chihiro-Parallelen-Problematik nun aber wirklich abzuschließen, sagen, dass Chihiro als Motiv- und Zitatspender Verwendung findet. Denn auch andere Referenzen finden sich in dem Film. Neben der prominenten Kind-im-Wunderland Thematik, tritt vor allem für den heranwachsenden Ren/Kyuta Melvilles Moby Dick als zentrale Referenz auf den Plan. ‚Ich gegen den Wal in mir‘ – oder so. Nicht ganz ernst gemeint: Aber sogar Sailor Moons Ami Mizuno, alias Sailor Merkur hat einen Cameo-Auftritt. Aber hier soll nun wirklich nicht dreist weiter gespoilert werden.
Bild und Ton
Technisch ist Der Junge und das Biest herausragend – natürlich durch Computerfilefanz ermöglicht. Aber, ganz gleich wie Oldschool-liebend man ist, der Film sieht exzellent aus, ganz gleich wie dieser hergestellt wurde. Häufig wird mit der Perspektive gespielt, mal ist diese bühnenhaft starr, oder ruckelig, aus den Augen Rens, oder unscharf über die Monitore des Toykoter CCTVs umgeleitet. Die Kampfchoreographien (Freestyle – unter anderem Karate, Jiu Jitsu, Kendo und Sumo vereinend) sind atemberaubend flüssig und ästhetisch schön. Das Charakterdesign ist simpel, und, was die menschlichen Figuren betrifft, realistisch, aber filigran. So, wie man es aus den bisherigen Filmen von Hosoda kennt. Farben, Licht und Schatten lassen Jutengai toll aussehen. Hier treffen verschiedene asiatische Stile vergangener Epochen auf einen fantastischen Märchenflair. Die Musik ist traditionell angehaucht und ein bisschen magisch, mit einem schönen, melodiösen Hauptthema und passt hervorragend zur Atmosphäre Jutengais.
Ein Wort zur Synchro
Im direktem Vergleich zu der japanischen Synchronisation ist die deutsche wie gewohnt stellenweise etwas hölzern. Fairerweise muss man sagen, dass das Synchrogeschäft in Japan gigantisch ist und reihenweise wahre Berühmtheiten hervorbringt. Daher ist das Niveau sehr hoch und japanische Animationsfilme oft so schwierig zu synchronisieren. Der vorliegende Film stellt dabei mit seinen teils sehr emotionalen Charakteren eine besondere Herausforderung für jeden (nicht japanischen) Synchronsprecher dar. Die zentralen Figuren allerdings, der kurzangebundene, derbe Kumatetsu und das freche Rotzblag, der neckische Affe und der in sich ruhende Schweinemönch sind recht gut besetzt. Die zahlreichen japanischen Begriffe und Namen sind richtig ausgesprochen und von der Betonung nicht wirklich eingedeutscht (was jedoch auch dazu führt, dass man die Namen gelegentlich nicht hundertprozentig reproduzieren kann). Viele Nebenfiguren, Statisten, quasi, wirken wiedermal ein bisschen zu sehr als würden sie heimlich ihre Dialoge von der Hand ablesen. Alles in allem aber eine empfehlenswerte Synchro, wenn man nicht flüssig Japanisch spricht und einem Untertitel zu anstrengend erscheinen.
Fazit: Für wen wurde der Film gemacht?
Der Film sei jedem und jeder empfohlen, der oder die ein bisschen was für Fantasy, Mystik oder Magischen Realismus (naja, und Kampfsport) übrig hat. Aber am stärksten angesprochen, insbesondere im direkten Vergleich zu dem sehr erwachsenen, ruhigen Ame und Yuki (anschauen! Zack-zack!), wird hier vielleicht ein dezent jüngeres Pulikum. Erwachsenwerden steht im Mittelpunkt, wie so häufig auch bei bereits anderen japanischen Coming-of-Age Filmen, die eine fantastische Erfahrung, eine fremde, nicht-reale Welt (das Motiv des Weggezaubertwerdens – ‚kamikakushi‘) mit dem Eintritt ins Erwachsenen-, oder Teenagerleben verbinden (Kamikakushi-of-Age, vielleicht?). Letztlich kann man den Film jedoch mehr als eine weitere Bearbeitung des Stoffes verstehen, als das man erwarten sollte, dass das Rad hier neu erfunden wird. Das wird es nun wirklich nicht. Die Erfahrungen und Lebenslektionen, die Ren/Kyuta lernt sind allgemeingültig, kann man sagen: Nicht aufgeben, nicht egoistisch sein, brav lernen (aber nur mit Spaß und Freude! Sonst lieber doch nicht.), den eigenen Weg finden, als auch die Reflexion guter und schlechter Vorbilder und der Fehler der Erwachsenen, die auch nur Menschen oder Tiermonster sind. Dadurch, dass alle diese Werte doch recht vordergründig vermittelt werden, bietet sich der Film ein klein wenig mehr für die etwas jüngeren Heranwachsenden an, die sich am besten mit dem erst Neun- und dann Siebzehnjährigen identifizieren können. Bei unserem kleinen, feinen Testpublikum zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Vierzig ist der Film jedoch durchweg positiv angekommen, obwohl eine Person prinzipiell keine Animationsfilme mag und wenig gerne Fantasy an sich, und eine Person sprechenden Tiere in Filmen nicht ausstehen kann. Das sollte für den Film sprechen. Wertvolles gelernt, um ehrlich zu sein, haben wir aber nicht. Für mich, auf ganz subjektiv, persönlicher Ebene, hatte der Film aber auch ohne die tiefsinnigsten unter den tiefsinnigen Aussagen alles, was einen guten Film ausmacht: Jungs, die sich gegenseitig rote Bändchen um die Handgelenke binden, Reis mit rohem Ei und ein kleines weißes Plüschwesen namens Chiko.
Getestet wurde die DVD-Fassung, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Universum Film.
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