Grantchester Season 4
Rezension von Ralf Sandfuchs
Ermittelnde Pfarrer sind im Bereich der Krimiserien nichts Neues. Denken wir nur zurück an Heinz Rühmanns quirlig-aufgedrehten Pater Braun und seinen englischen Ursprung Father Brown aus der Feder von G. K. Chesterton.
Doch Sidney Chambers, der anglikanische Vikar von Grantchester, hat in drei vorangegangenen Staffeln einen ganz anderen, sehr viel weltlicheren Geistlichen gegeben, der irgendwie so gar nicht in das England der Fünfziger zu passen scheint.
Vom Alten …
Nach dem Ende der langen Beziehung-oder-doch-nicht-Beziehung zu seiner Jugendliebe Amanda ist Sidney Chambers zu Beginn der 4. Staffel in eine tiefe Krise gestürzt, aus der ihn erst das Auftauchen des schwarzen Bürgerrechtlers Nathaniel Todd und vor allem dessen Tochter Violet herausreißt. Die Morde an einem Schwarzen und an einer Prostituierten werden dabei in den ersten beiden Folgen fast zur Nebensache, denn Sidney verliebt sich in die lebhafte Frau und lässt seine Gemeinde zurück, um sein Glück zu finden.

Geordie Keating, sein langjähriger Ermittlungspartner, ermittelt daraufhin gemeinsam mit Sidneys Stellvertreter Leonard Finch. Der homosexuelle Geistliche muss aus seiner Neigung ein Geheimnis machen, nicht nur wegen der Ansprüche der Kirche, sondern vor allem, weil Homosexualität zu dieser Zeit noch ein Verbrechen darstellt. Umso ungünstiger, dass die Ermittlungen im Fall eines ermordeten Computerpioniers in die Schwulenszene führen …
… zum Neuen
Finch, der sich die Hoffnung gemacht hatte, selbst zum neuen Vikar der Gemeinde zu werden, bekommt ab der vierten Folge einen neuen Vorgesetzten, nämlich Will Davenport, der in der Gemeinde wegen seiner Vorliebe für Motorräder, Boxen und Rock’n’Roll misstrauisch beäugt wird.
Sein erster „Einsatz“ als Ermittler (zu dem er quasi gezwungen werden muss) ist ein Todesfall auf der Farm einer strenggläubigen Mennoniten-Familie, der sich plötzlich als Mord herausstellt. Auch die nächste Folge bringt den widerspenstigen Vikar nur durch einen Trick dazu, sich zu engagieren, da sich das Verbrechen auf dem Landsitz seines reichen Vaters abspielt.
In der letzten Folge der Staffel wendet er sich jedoch schon bereitwillig den Ermittlungen um die Ermordung eines Jugendlichen zu, da Geordie mit seinen Vorurteilen gegen die „Jugend von heute“ den Fall zu kippen droht.

Neuer Hauptdarsteller – neues Glück?
Grantchester, das hierzulande auf dem Kleinstsender SAT1 Gold läuft, ist in England ein Quotengarant erster Güte. Und so war es ein schwerer Schlag für den produzierenden Sender ITV, als Hauptdarsteller und Frauenliebling James Norton alias Sidney Chambers nach der dritten Staffel verkündete, dass er aus der Erfolgsserie aussteigen wollte, um sich neue Herausforderungen zu suchen. Da die Produzenten die Verfilmungen der Kurzgeschichten von James Runcie jedoch nicht abbrechen wollten, musste ein neuer Hauptdarsteller her. Tom Britney übernahm die Rolle von Will Davenport, sicherlich als Vikar ebenso außergewöhnlich wie Sidney Chambers, aber offenbar deutlich ruhiger und weniger von inneren Dämonen geplagt als sein Vorgänger. Davenport taucht in einer kurzen Szene bereits in der ersten Folge der Staffel auf, übernimmt die Serie jedoch erst ab Episode 4.
Sidney Chambers bekommt einen netten, aber auch ziemlich überstürzten Abgang geschrieben, denn nachdem er mehrere Staffeln lang immer wieder vergeblich versucht hat, eine Beziehung mit seiner Jugendliebe aufzubauen, braucht er jetzt gerade mal zwei Folgen, um sich so sehr in eine völlig Fremde zu verlieben, dass er alles hinter sich lässt. Ich denke, als Zuschauer muss man in einer solchen Situation hinnehmen, dass die Geschichte manchmal sehr holterdiepolter abläuft.
Neben den eigentlichen Kriminalfällen beherrscht eine ganze Reihe von Nebenhandlungen die laufende Staffel. So muss Leonard sich um die zerbrochene Freundschaft zur Haushälterin der Gemeinde kümmern, als diese von seinen sexuellen Interessen erfährt. Ein weiteres wichtiges Ereignis, das über mehrere Episoden erzählt wird, ist die eskalierende Situation zwischen Geordies Frau und einem übergriffigen Kollegen im Kaufhaus, in dem sie arbeitet; vor allem die Auflösung dieser Geschichte ist hervorragend geschrieben.
Generell kann man sagen, dass man durch die einzelnen Folgen viel über das scheinheilige und bigotte England jener Zeit erfährt, über Dinge, die uns heute nur mit dem Kopf schütteln lassen. Und die Beziehung zwischen dem konservativen Polizisten und dem progressiven Vikar (welchem auch immer) zeigt uns häufig beide Seiten des jeweiligen Konflikts.

Ein gelungener Übergang
Die vierte Staffel von Grantchester erscheint auf zwei DVDs. Bildqualität und Ton sind im grünen Bereich, wenn auch typisch für eine Fernsehproduktion. An Extras bietet die zweite Disc ein gelungenes Making-Of mit einigen Interviews und Bildmaterial hinter den Kulissen; nichts Aufsehenerregendes, aber solide.
Die sechs enthaltenen Episoden bieten typisch englische Fernsehkost gehobener Qualität. Der Übergang vom alten zum neuen Ermittler ist gelungen, wenn auch etwas hektisch. Allerdings ist diese Staffel trotz des neuen Hauptdarstellers für einen Neueinsteiger ziemlich ungeeignet, da die Personen (bis auf Will Davenport) einfach als gegeben hingenommen werden, ohne eine Einführung zu erfahren.
Wer sich daher an Grantchester versuchen möchte, sollte lieber auf die ersten Staffeln zurückgreifen. Für Fans der Serie sind die vorliegenden Episoden natürlich ein Muss, allein schon, um den neuen Ermittler kennenzulernen.
Gratchester – Staffel 4 ist am 15. Mai 2020 als DVD und Blu-ray erschienen.
Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar der DVD von der Firma Edel Germany GmbH erhalten.