Jenseits der Zeit von Cixin Liu (Trisolaris-Trilogie, Band 3)
Ein Jahr ist vergangen seit der Veröffentlichung von Band 2 der Trisolaris-Trilogie. Für jemanden, der wissen will, wie die Geschichte weitergeht und dann auch endet, kann das ganz schön lang werden. Im kosmologischen Kontext ist so ein Jahr natürlich ein Klacks. Mit Jenseits der Zeit liegt nun endlich der dritte und letzte Band der Trisolaris-Trilogie vor. Auf 965 Seiten umfasst die erzählte Zeit hier – irgendwie auch passend zum Titel – knapp 19 Millionen Jahre. Wobei sich diese fast 19 Millionen Jahre auf Erdenjahre beziehen, dieser Bezugsrahmen dann aber gar nicht mehr existiert. Schließlich handelt es sich hier ja um ein Werk Cixin Lius. Der vernichtet bekanntlich nicht nur gerne die Menschheit, sondern auch gleich mal ganze Sternensysteme oder gar Universen.
Aber halt, alles zurück auf Anfang, auf diesseits der Zeit.
Zeitalter diesseits der Zeit
Ein bisschen hält es der Chinese Cixin Liu in seiner Zeitzählung mit den Japanern, die diese wiederum im japanischen Altertum von den Chinesen übernommen hatten. Die Zeitzählung der Japaner orientiert sich jedenfalls an dem amtierenden Kaiser. Sobald ein neuer Kaiser sein Amt antritt, erhalten die Japaner eine neu Zeitzählung. So herrscht dort seit dem 1. Mai 2019 das Jahr 1 der Reiwa-Zeit.
Jenseits der Zeit erzählt nun nacheinander aus verschiedenen Zeitaltern der Menschheit. Dem Zeitalter der Krise, das auf Geschehnisse aus Band 2 Der dunkle Wald zurückgreift und dort auch die meiste erzählte Zeit bestimmt hatte, folgt nun das der Abschreckung. Nach dem Post-Abschreckungszeitalter kommt das der Übertragung, dem wiederum das Zeitalter der Bunker folgt. Na ja, und dann gibt es noch drei weitere Zeitalter, und so landen wir im Jahr 18 906 416 und schließlich auch jenseits der Zeit.
Sleeping Beauty Cheng Xin
Wenngleich nun verdammt viel Zeit vergeht, bleibt doch die Hauptfigur immer dieselbe. Dabei altert die Raumfahrtingenieurin Cheng Xin so gut wie gar nicht. Mehrfach wird sie nämlich in den Kälteschlaf gehen und immer wieder zur Stelle sein, wenn man sie braucht. Dann ist es an ihr, Entscheidungen für die Menschheit zu treffen, die meist katastrophale Folgen haben. Und dies, obwohl Cheng Xin mit ihrer humanitären Grundhaltung immer nur das Beste bezweckt. Aber so ist das leider auch mit den besten Absichten: So schwer vorherzusehen, ob die sich nicht doch irgendwann gegen einen selbst oder gleich gegen die ganze Menschheit richten.
Die erste von Cheng Xins Entscheidungen findet noch im Zeitalter der Krise statt. Also in der Phase, in der die Menschen noch die Ankunft der ersten Trisolarischen Flotte erwartet hatte. Damals war Luo Ji der unmotivierte Wandschauer und noch nicht der Besieger der Trisolarier. Damit als sogenannter Schwerthalter auch noch nicht der Begründer des folgenden Zeitalters der Abschreckung.
Zu dieser Zeit arbeitet Cheng Xin für die PIA, die Central Intelligence Agency auf Planetarer Ebene. Es ist ihre Idee, eine Raumsonde zum Ausspionieren der Trisolaris-Flotte mittels in Reih und Glied angeordneter Atombomben zu beschleunigen. Auch es ist ihre Idee, ihren alten Studienkollegen Yun Tianming in diese Sonde zu stecken. Wenngleich in der Sonde für einen Menschen gar kein Platz ist. Aber wozu all die Knochen und das ganze Gewebe, wenn ein Gehirn doch reicht. Schließlich soll die Sonde auf die Trisolarier noch vor deren Eintritt in unser Sonnensystem treffen – und die wissen mit dem Gehirn schon etwas anzufangen.
The Brain Yun Tianming
Yun Tianming hat nun nicht wirklich Lust, sich in die Hände der Trisolarier zu begeben. Schon zumal er noch nicht mal ein großer Menschenfreund ist. Die Sache mit seinem notwendigen Ableben, damit nur sein Gehirn auf Reisen gehen kann, ist für ihn dabei gar nicht mal das ganz große Problem. Unheilbar erkrankt hatte er ohnehin vor, seinem Leben ein frühzeitiges Ende zu setzen.
Zuvor, als eigentlich letzte gute Tat, schenkt er seiner heimlich Angebeteten, keiner Geringeren als Cheng Xin, noch einen Stern. DX3906 hat laut Anbieter keine Planeten, ist schlappe 286,5 Lichtjahre entfernt, dafür aber bei guten Bedingungen mit bloßem Auge zu erkennen. Cheng Xin hat keine Ahnung, von wem sie diesen Stern geschenkt bekommen hat. Ebenso wenig hätte sie gedacht, ihr Studienkollege könnte in sie verliebt sein. Sonst hätte sie ihn nie als Kandidaten für ihr sogenanntes Treppenplan-Projekt vorgeschlagen. Als ihr die Zusammenhänge klar werden, ist es aber schon zu spät für einen Rückzieher.
Noch viel später werden beide, das Gehirn und der Stern, wesentliche Rollen spielen. Doch bis dahin ist nicht nur viel Wasser den Rhein heruntergeflossen. Auch wird die Menschheit so manchen Preis dafür bezahlt haben, dass eine von ihnen einst einen sonnenverstärkten Ruf in den Dunklen Wald hinausgeschickt hatte.
Vertreter der alten männlichen Art: Luo Ji
Luo Ji ist es zu verdanken, dass die Menschheit im Zeitalter der Abschreckung viel Zeit zum Durchatmen und zum Lernen hat. Mit seinem Fluch gegen die Planeten des Sterns 187J3X1 hatte er bewiesen, dass einer Zivilisation nichts Schlimmeres passieren kann als die universelle Veröffentlichung der eigenen Adresse mitsamt genauer Position in den unendlichen Weiten. Damit hatte er es geschafft, die bis dahin so gefürchteten Trisolarier handzahm zu machen. Zu groß deren Angst, Luo Ji könnte sein Schwert schwingen und damit ihrer beider Zuhause an unliebsame Dritte verraten. So unterdrücken ihre Sophonen seither auch nicht länger den technischen Fortschritt der Menschheit. Vielmehr findet gar kultureller Austausch statt.
Nun bietet das Zeitalter der Abschreckung nicht nur ein hohes Alter, sondern auch alle Annehmlichkeiten, die mit dem technischen Fortschritt einhergehen. 54 Jahre lang hatte Luo Ji für Frieden und damit auch dafür gesorgt, dass sich die Geschlechter immer mehr angleichen konnten. Als Cheng Xin das erste Mal aus dem Kälteschlaf erwacht, fällt ihr die feminine Sanftheit der aktuellen Männer sofort auf. So richtig warm werden mag sie damit nicht. Andererseits wirken die Männer alter Zeiten auch nicht wirklich attraktiv auf sie. Schon gar nicht die Konkurrenten um den Posten des neuen Schwerthalters. Doch mit ihrer Hauruck-Mentalität passen die alten Männer so gar nicht in die friedfertigen Zeiten. Weshalb die Menschheit Cheng Xin zu Luo Jis Nachfolgerin macht.
Mehrdimensionale Welten
Allzu lange wird Cheng Xin das Schwert allerdings nicht in Händen halten. Aber auch die Trisolarier werden von der Oberhand, die sie plötzlich wiedergewinnen, nicht allzu lange etwas haben. Der Dunkle Wald hat halt seine eigenen Gesetze. Und die haben wiederum weit mehr Dimensionen als vielleicht vermutet.
Nach Der Dunkle Wald, den ich in Teilen ein wenig langatmig fand, fährt Jenseits der Zeit einmal mehr mit einer Vielzahl an (astro)-physikalischen Gesetzen und Phänomenen auf. Da kommt das in dieser Hinsicht mäßig geschulte Hirn mal wieder ganz schön ins Schwitzen. Aber ganz wie im ersten Teil Die drei Sonnen macht diese intellektuelle Überforderung erst so richtig den Reiz aus.
Aber auch die Freude versprühende Leichtigkeit, mit der Cixin Liu einem unterschiedlich-dimensionale Welten und parallele Universen um die Ohren haut, vermag zu punkten. Die ist mindestens genauso mitreißend wie sein an sich so nüchterner Stil mitsamt seiner bürokratisch-deutsch anmutenden Begriffskreationen: Wandschauer, Treppenplan, Schwerthalter, Post-Abschreckungszeitalter etc..
Beim Lesen habe ich immer wieder gedacht, dass der grobe Plot der Trisolaris-Trilogie eigentlich relativ schnell erzählt und auch nicht allzu überwältigend neu ist: Außerirdische bedrohen die Menschheit, betrachten uns als Ungeziefer. Andere Außerirdische kommen hinzu und sind auch nicht freundlicher gestimmt. Die Menschheit hat keine Chance in diesem Krieg der Sterne und versucht sie dennoch zu nutzen.
Neu, überwältigend und irrwitzig sind all die wissenschaftlich-phantasievollen Details. Von denen hat Jenseits der Zeit ähnlich wie ursprünglich Die drei Sonnen beeindruckend viele zu bieten. Ob nun im Rahmen von Berichten über eine Vergangenheit außerhalb der Zeit, von Prozess-Protokollen oder von Märchen voller mehrdimensionaler Metaphern: Jenseits der Zeit ist ein würdiger letzter Band dieser galaktischen Trilogie. Und dabei spielt es wahrlich nicht die große Rolle, wie viel Menschheit oder Erde das Ende von allem noch erlebt.