Kim Newman, Draculas Schüler
Portrait eines Hämophilen
1992 erschafft der britische Autor Kim Newman unter dem Titel Anno Dracula eine monströse Version des viktorianischen Zeitalters. Unter der Prämisse „Was wäre, wenn Graf Dracula van Helsing besiegt hätte?“ schildert Newman ein vampirisches Empire unter der mittelalterlichen Knute von Prinzregent Vlad Tepes Dracula. Der transsylvanische Wiedergänger hat Queen Victoria geehelicht und damit die Macht an sich gerissen. Vampire aus der gesamten Welt müssen sich nicht mehr verstecken und versammeln sich in London, während Jack the Ripper mit einem Silbermesser Vampirhuren ermordet. Der Londoner Newman beschränkt sich in seinem Roman nicht auf das Personal von Stokers Buch: außer bekannten historischen Figuren wie Inspektor Abberline oder ‚Elefantenmensch‘ Joseph Merrick kommen Mycroft Holmes, Doktor Jekyll, Fu Manchu und viele viele mehr zum Zuge. Damit schuf der Horrorgeek Newman noch vor Alan Moores League of Extraordinary Gentlemen ein viktorianisches Pastiche. In der lebendigen und mitunter blutigen Sammlung (nicht nur) viktorianischer Literaturverweise tummeln sich vor allem die Vampire: Karmilla Carnstein, Barnabas Collins, Graf Von Krolock und mehr Blutsauger geben sich hier die Klinke in die Hand. Außerdem zitiert Newman sich selbst und transportiert Geneviève Dieudonné nach London. Die Vampirin stammt aus einer Reihe von Fantasy-Romanen, die er unter dem Pseudonym Jack Yeovil verfasst hat.
Dracula ist nicht totzukriegen
Obwohl 1992 lange her ist, schlägt das schwarze Herz der Anno Dracula-Reihe heute immer noch. 1995 trat mit The Boody Red Baron Newmans Welt der Vampire in den ersten Weltkrieg. In Dracula Cha Cha Cha bringt Newman drei Jahre später den Dracula-Mythos in sein eigenes Geburtsjahr 1959 und holt 007, Argento und Fellini mit an Bord. 2013 ist auch endlich Johnny Alucard erschienen, unter anderem dreht darin Francis Ford Coppola schon 1976 einen Dracula-Film, mit Marlon Brando als Dracula und Martin Sheen als Jonathan Harker. Das Vexierspiel mit vertrauten Figuren in einer anderen Welt zeigt das enorme Genrewissen des Kim Newman. Kein Wunder, ist der Mann doch von Haus aus Journalist und sein erstes Buch von 1985, mit keinem geringeren Co-Autor als Neil Gaiman, zeugt von profunder Kenntnis der Materie. Ghastly Beyond Belief: The Science Fiction and Fantasy Book of Quotations ist heute wohl nur noch antiquarisch zu erwerben und ist ein erschöpfendes Lexikon von Zitaten aus Science Fiction und Fantasy. Das zweite Werk, Nightmare Movies: A critical history of the horror film beleuchtet den Horrorfilm nach 1968, eingeleitet von Rosemary’s Baby und Night of the Living Dead. Damit ist Kim Newman im modernen Horrorfilm genau so zu Hause wie in den Klassikern – eine Leidenschaft, die er sich selbst durch den Konsum von Tod Brownings Dracula von 1931 im zarten Alter von 11 Jahren erklärt.
Kriegshammerzeit!
Anspielungen auf sein Lieblingsgenre scheinen für Newman fast schon eine Sucht zu sein. Unter dem Pseudonym Jack Yeovil hat er Fantasy-Romane für Games Workshop geschrieben, die in der pseudo-mittelalterlichen Fantasywelt der Warhammer-Spielereihe spielen. Auch sie sind voller Anspielungen auf (Horror-)Filme. In Drachenfels taucht außer der schon oben erwähnten Geneviève ein Dramatiker namens Detlef Sierck 1 auf – eine Anspielung auf den Regisseur Hans Detlef Sierck. Und ein Schauspieler namens Löwenstein, der von einer bösen Macht zum Morden gezwungen wird, ist natürlich ein Doppelgänger von Peter Lorre, geboren unter dem Namen László Loewenstein. In weiteren Warhammerbüchern, Bestien in Samt und Seide oder Die untote Geneviève treibt ein ripperähnlicher Killer sein Unwesen, geht ein Phantom in einem Opernhaus um und ein Graf namens Rüdiger von Unheimlich2 macht Jagd auf Menschen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Zitatenparaden ohne Herz und Verstand, Newmans Werke sind spannend, unterhaltsam und brechen genau auf die richtige Art und Weise mit Klischees und Genrekonventionen. Nur an Blut wird nicht gespart, das trifft auch auf die andere Jack-Yeovil-Reihe im Programm von Games Workshop zu. Route 666 liest sich wie ein Mash-Up aus Mad Max und dem Exorzisten, mit einem Alternativwelt-Elvis als Kopfgeldjäger und bringt es immerhin auf vier Teile.
Im Video-Verließ
Das Newman vor Trash nicht zurückschreckt zeigt seine Arbeit beim pornographischen Magazin »Knave«, das ebenfalls Geschichten des mit ihm befreundeten Phantastikautors Neil Gaiman veröffentlichte. Für »Knave« und »Penthouse« arbeiten sie zusammen an humoristischen Texten. In derselben Zeit arbeitete Newman beim Londoner Stadtmagazin »City Limits«. Bis heute ist er als Journalist und Filmkritiker tätig. Einmal im Monat verreisst er in »Kim Newman’s Video Dungeon« Direct-to-DVD-Horrorfilme.
Der geheimnisvolle Mr. Newman
Über das Privatleben von Kim Newman ist wenig bekannt. Außer der Geburt in London als Sohn eines Keramiker-Ehepaares, dem Aufwachsen im Dörfchen Aller in Sommerset und der Existenz einer Schwester namens Sasha hüllt sich Draculas Schüler in Schweigen. Aber wer weiß, ob der ‚Chap from Brixton‘ nicht bloß eine sorgsam zusammengestellte Tarnidentität ist, um die braven Bürger von London in Sicherheit zu wiegen. Womöglich kam Newman aus den Karpaten nach England geflogen, schläft tagsüber in einem Sarg und nährt sich nachts vom Blut der Unschuldigen. Oder er entstieg wie der diabolische Derek Leech in seinem Buch Das Quorum ausgewachsen der schmutzigen Themse. Wahrscheinlich entstand er als eine Zusammenballung alter VHS-Bänder und Angstlust in der Horrofilmecke einer Londoner Videothek. Aber was auch immer zutrifft: Mister Newman ist eine stilvoll gekleidete Zusammenballung irdischer Materie. Anzug, Weste und manchmal ein Cape gehören zur Ausstattung des beschnurrbarteten Gentleman. Nur einen Stockdegen trägt er nicht mehr. Den lässt er weg, seit er einmal wegen Führen eines solchen verhaftet wurde.
Kim wer?
Das Œuvre des Filmnerds mit dem androgynen Namen ist in Deutschland größtenteils in Vergessenheit geraten. Die Wahrhammer-Romane, die Route-666-Reihe und andere Frühwerke wie Das Quorum sind nur noch antiquarisch zu erwerben. Aber Hoffnung besteht, 2009 hat Heyne die ersten drei Bücher der Anno Dracula-Reihe unter dem Titel Die Vampire herausgebracht. In der englischsprachigen Welt ist Kim Newman renommiert und Träger zahlreicher Preise. So erhielt er zweimal den Bram Stoker Award für die Sachbücher Horror: 100 Best Books (1989) und Horror: Another 100 Best Books (2006). Als britischer Nerd kam er zudem zur großen Ehre, einen Doctor-Who-Roman zu verfassen, Time and Relative (2001). Für einen Teenager, der zuviele Horrorfilme gesehen hat, ist Mr. Newman weit gekommen.
Draculas Linkliste
Kim Newmans Website
Kim Newmans fünf Lieblings-Halloweenfilme
Das Kim Newman-Wiki
Shades of Violence – An Interview with Kim Newman
Jack Yeovil im Warhammer-Lexicanum