The Sea of Trees
Der Schwarze See der Bäume
Arthur Brennan (Matthew McConaughey) wirkt unglücklich. Er parkt sein Auto am Flughafen – ohne abzuschließen. Er checkt in seinen am Vortag gebuchten Flug ein – ohne Rückflugticket. Er reist ohne Gepäck. Er verzichtet auf das Catering im Flieger. Wir begleiten ihn auf seinem letzten Gang.
Ein Beitrag von Ulf und Cathy.
The Sea of Trees beginnt hoch interessant, erst recht ohne Vorkenntnisse. Doch, so kann man sagen, liefert der Film nicht genug, um ein Review spoilerfrei zu gestalten, oder gar zu raten, den Film Info-los zu schauen. Wir verraten euch also beinahe schamlos, worum es geht. Keine Sorge, den Twist verraten wir nicht.
Arthur Brennan will sterben, ohne Netz oder doppelten Boden. Arthur ist so dermaßen entschlossen, sein Leben zu beenden, dass er dafür den perfekten Ort zum Sterben aufsucht. Tante Google spuckt ihm aus: Er muss nach Japan, zum legendären Selbstmordwald Aokigahara, einem sehr weitläufigen Waldstück am Fuße des Vulkans Fuji. Dieser Wald zieht sich als Schauplatz und Stil-Element durch zahlreiche Werke japanischer Kunst und Unterhaltung, und ist vielleicht hierzulande in Form einer gelungenen Dokumentation den treuen Lesern des Vice-Magazins1 vor die Flinte gelaufen. Der Aokigahara wird übrigens in dem im letzten Jahr erschienenen Horror-Film The Forest mit Natalie Dormer gleich noch einmal verwurstet (vielleicht ja auch mal auf Fischpott) und auch im Manga I am a Hero von Kengo Hanazawa (hierzulande bei Carlsen erschienen) kommt der Wald in den Bänden 3 und 4 recht prominent vor.
Googlesuche: a perfect place to die
Menschenleere Plätze, die inmitten einer belebten Gesellschaft eine Insel imminenten Todes darstellen, üben eine gewisse Faszination aus. Seien es Orte wie Prypjat, Nähe Tschenorbyl, US-amerikanische Western-Geisterstädte oder Nord-Korea nach Ladenschluss. Im hochmodernen Japan findet man eine Art Laub- und Nadel-Dschungel, der – laut Mythos – den Menschen mit Todeswillen verschlingt (also nicht dort wandern gehen, wenn man schlecht gelaunt ist!). Der nette Forst wird zum Labyrinth. GPS, Kompass – alles spielt verrückt. Letzteres mag an dem im Wald befindlichen Lavagestein liegen und der starken Präsenz des Riesenvulkans nebenan. Unter den feindlichen Gruselorten ist Aokigahara sogar etwas Besonderes: Die mystisch-bedrohliche Real-Life-Location wird aktiv genutzt von Todes-Sehnsüchtlern für den idyllischen Suizid. Back to Nature.
Für uns aber erst einmal zurück zum Filmgeschehen: Der unvermittelte Einstieg mit dem lakonisch dreinschauenden Arthur, der glaubwürdig die Orientierungslosigkeit des Zuschauers mit konsequenter Nichtbeachtung straft, führt in einen großen, dunklen Wald in Japan (ohne Umwege, ohne krasse Stakkato-Schnitt-Collage des Tokioter Nachtlebens). Der Wald ist Pilgerstätte und Endstation für Selbstmordgefährdete. Die Prämisse von The Sea of Trees weckt Neugier, ohne Frage.
Atmosphärisch macht der Film bisher alles richtig, der Wald ist ein Naturschutzgebiet und solange man auf den Wegen bleibt auch sicher ein lohnenswertes Ausflugsziel. Wenn da nicht die Tatsache bliebe, dass die Waldschützer in der Gegend pro Jahr 80-100 Leichen aus dem Wald2 holen. Arthur bleibt zunächst auf dem Weg. Ihm und auch dem Zuschauer fallen sowohl bunte Bänder, die sich um die Bäume schlingen und weiter in den Wald führen (von Besuchern gespannt, die sich noch nicht sicher waren), als auch zweisprachige Warnschilder auf (mit Inhalten wie: Das Leben ist kostbar, wirf es nicht weg, wähle diese Nummer, wenn du Hilfe brauchst etc.). Er verlässt den sicheren Pfad und läuft tiefer in den See der Bäume (japanisch: Kuroi Jukai (黒い樹海), wörtlich „Schwarzer See der Bäume“; es gibt übrigens eine ebenfalls Kuroi Jukai betitelte japanische Novelle von Seichō Matsumoto, in welcher sich ein junger Mann im Aokigahara umbringt). Die Natur um ihn herum ist umwerfend. Die Weitläufigkeit des Walds überwältigend. Hier und da sehen wir bedrückende Spuren menschlicher Präsenz. Ein Paar Schuhe, Notizbücher, Alltagsgegenstände, die nicht mehr gebraucht wurden. Leider verlässt der Film auch kurz den sicheren Pfad und haut uns oben drauf plakativerweise die ersten Leichen um die Ohren. Das sei aber geschenkt, kann passieren. Gehen wir weiter.
Arthur findet ein nettes Fleckchen und richtet sich ein: er nimmt Platz auf einem sonnengeküssten Hügelchen und nimmt sein Wasserfläschchen und Pillendöschen zur Hand. Langsam verspeist er Pille für Pille. Doch schon bei der zweiten merkt Arthur, dass er nicht alleine ist: Ein japanischer Anzugträger namens Takumi Nakamura (Ken Watanabe, Hollywoods Japaner des Vertrauens) irrt mit schlecht angeritzten Handgelenken durch das Dickicht. Ganz offensichtlich hat auch er versucht, sich das Leben zu nehmen, aber bereut diesen Entschluss nun. Ohne Hilfe wird er es nicht mehr lebend aus dem Wald schaffen. Also beschließt Arthur nach einigem Hin und Her, Takumi zu helfen.
Während die beiden sich ihren Weg durch die Natur bahnen, erfahren wir, Drehbuch-Einmaleins sei Dank, endlich etwas über Arthurs und Takumis Hintergrundgeschichten. Letzterer wurde in seiner Firma von einem gut bezahlten Posten ins Archiv versetzt, wo er abgeschieden von dem Rest der Belegschaft sein beschämendes Dasein fristet. Eine Abstufung dieser Art ist finanziell und vor allem in sozialer Hinsicht für ihn und seine Familie (so entscheidet er) untragbar, also wählte er den Freitod.
Suicidal Tendencies?
In Japan gibt es nicht erst seit der Wirtschaftskrise eine recht hohe Selbstmordrate3. In alten Schmökern und auch Geschichtsbüchern liest man schon davon: Geishas beißen sich die Zunge ab (angeblich fatal, mag aber ein Mythos sein), Generäle und andere Militärs schlitzen sich den Leib auf, Kamikaze-Piloten machen ihr Ding, Osamu Dazai ertränkt sich in einem Flüsschen und so weiter. Das Klischee kennt man. Selbstmord als Thema findet sich beinahe alle Genres durchziehend in japanischen Geschichten. In Filmen wie Shion Sonos Suicide Circle, oder in einer Episode von Satoshi Kons Paranoia Agent stolpert man über Selbstmord-Treffs in Internet-Foren. Das hoch spiritualisierte und unübersetzbare Konzept des shinjuu (心中), der Liebes-Doppelselbstmord, mag auch einigen schon einmal in den Medien begegnet sein. Selbstmord in allen Betrachtungsweisen findet man in der herrlich bösen Gesellschafts- und Medien-Comic-Satire Sayōnara Zetsubō-sensei (Leben Sie wohl, Herr Lehrer Verzweiflung) von Kōji Kumeta. Autor Wataru Tsurumi hat passend zu dem Phänomen eine Art Selbstmordratgeber4 geschrieben, der die verschiedenen Methoden aufführt und in ihrer Wirksamkeit mit Totenkopfsymbolen bewertet (laut Tsurumi aber vor allem Kritik, nicht Unterhaltung). Außerdem gibt es in Japan für das Thema „Tod durch Überarbeitung“ sogar einen Begriff: Karōshi 5. Da könnte man auch von Selbstmord sprechen.
Die scheinbare Affinität zum Suizid in Japan ist hierbei etwas, dass sicherlich schon Bände sozialwissenschaftlicher Betrachtung hervorgerufen hat. Schlicht heruntergebrochen lässt sich mutmaßen, dass in Japan die Menschen nicht so gern über ihre Probleme reden, da dies Schwäche zeigt, und sich somit irgendwann Selbstmord zu einem akzeptierten Ausweg aus der Gesellschaft gemausert hat, für den Fall, dass es nicht mehr weiterzugehen scheint (Jobverlust, Vereinsamung, Liebeskummer, Scham und Schande etc.). Selbstmordtreffs steuern hierbei noch den nötigen sozialen Druck bei, den so mancher, man kennt das selbst, zum Handeln braucht. Autor Inio Asano (Das Feld des Regenbogens) lässt einen Jungen in seiner Comic-Kurzgeschichtensammlung Hikari no Machi (erschienen hierzulande als Sun Village bei Schreiber & Leser) zur Stimme einer Selbstmordhotline werden – eine Hotline, welche man anrufen kann in Momenten des Zögerns, um sich das entscheidende „Tu’ es!“ abzuholen.
Ein weiteres Klischee: Man wahrt nicht nur das eigene Gesicht, sondern tut auch der Gesellschaft einen Gefallen mit dem selbst-organisierten Ableben. Der persönliche Suizid geschieht möglichst auf die japanisch-höfliche Art, mit einer Methode, mit welcher man keinem zur Last fällt. Vor den Zug springen gehört sich nicht. Im tiefen Wald verloren gehen – da entsorgt man sich quasi selbst! Andere belasten ist egoistisch und unfair. Sicherlich ein stärkerer Gedanke in einer Gesellschaft, die ursprünglich mehr auf Allgemeinwohl, als auf Individualität aufgebaut war und für uns teils etwas befremdlich. Auch Sea of Trees’ Takumi denkt, er tue seiner Familie einen Gefallen durch seinen Tod und rette seine Würde (im Gegensatz zur Ausübung eines staubigen Archivjobs). Weshalb aber nun genau dieser Samurai-Ehrenkodex noch heute in den Schädeln schwertloser Salarymen ist … Vielleicht ja wegen Filmen und Geschichten wie Suicide Circle, Sayōnara Zetsubō-sensei und Sea of Trees? Die Medien sind schließlich immer schuld!
Akademiker-Probleme und Ehekrisen
Aber ‚Spaß‘ beiseite. Dass der ‚Japaner-an-sich‘ zum Strick greift wegen eines kleinen Karriereknicks, das raffen wir als brav klischee-kundiges westliches Publikum also mit Bravur. Aber was zur Hölle ist los mit Arthur?
Auch Arthurs Probleme kommen nach und nach ans Tageslicht: Er war mit Frau Joan (Naomi Watts), eher unglücklich, verheiratet. Wir steigen bereits an einem kritischen Punkt ins Geschehen ein. Joan erleben wir in den teilweise recht langen Rückblenden zunächst als dauergereizte Alltags-Alkoholikerin. Jeder Dialog scheint in Streit zu münden. Sie wirft ihm vor, dass er sein Leben als brotloser Akademiker verschwende, während sie die Brötchen als knallharte Immobilienmaklerin verdienen müsse. Er wirft ihr vor, dass sie es selbst war, die ihn drängte, seinen guten Laborjob zu kündigen und romantisch seine Träume an der Uni zu verfolgen. Sie wirft ihm vor, sie aber dort mit einer Labor-Kollegin betrogen zu haben. Er wirft ihr vor, nicht verzeihen zu können. Et cetera peh-peh. Man kann sich nur schwer entscheiden, wen man weniger mag. Hut ab, allerdings: die Streitereien sind tatsächlich glaubwürdig, alltäglich, belanglos, nachvollziehbar – und dadurch fies und unangenehm! Man schwankt von Mitleid zu Fremdscham und zurück.
So wechselt auch The Sea of Trees fortan immer wieder von „Männer, verloren im Wald des Todes“ zu „Szenen einer Ehe“ und das tut dem Film nach dem atmosphärischen Einstieg nicht sonderlich gut. Auch die Waldszenen driften ab in teils recht dümmlich wirkende Ausrutscher und Stürze. Am Ende des Tages im Wald ist Arthur krankenhausreif. Da fühlt man sich gleich wie Indiana Jones, wenn man selbst so mir-nichts-dir-nichts jeden ausgedehnten Hundespaziergang durchs Wandernetz des Bergischen Landes ohne Blessuren meistert! Der dünn vorhandene philosophische Ansatz über das Überleben in einer überlebensfeindlichen Umgebung, nachdem man doch eigentlich gerade erst den Tod gesucht hatte, wird später noch mit einer fuchsigen Meta-Ebene versehen und wir kriegen heraus, dass nicht alles so ist, wie man zunächst denken könnte. Aber jetzt bleiben die Spoiler im Karton!
Fazit. Wie man in den Wald ruft…
So richtig vorwerfen kann man Regisseur Gus van Sant hier nichts. Er hat einen doch recht bekannten (aber für den Mainstream nicht zu bekannten) Ort als Setpiece für seinen Film genommen. Er weckt damit hohe Erwartungen, liefert dann aber doch ‚bloß‘ eine Schnulze 6, die Trauer, Verlust, Reue und Liebe verhandelt. Da The Sea of Trees aber zunächst Raum bietet, einen etwas unheimlichen, getragen gefilmten interkulturellen Selbstfindungstrip vorzufinden, mit etwas mehr und etwas krasserem philosophischen Gedankenguts, entsteht eine gewisse Enttäuschung. Eine Anthologie über Selbstmord mit mehreren Episoden (wie der großartige Der Todesking von Jörg Buttgereit), davon dann eine im Aokigahara, hätte hier sicher besser funktioniert. Oder – das war beim Gucken unsere Lieblingsphantasie – eine trashige Version, gedreht von Takashi Miike, mit Nicolas Cage als Arthur Brennan und Takeshi Kitano als Takumi Nakamura in den Hauptrollen. Das hätte doch Potential!
Immerhin: Die Bildqualität der Blu-Ray war völlig in Ordnung und der Sound sogar recht oft beeindruckend druckvoll bei den Wettereffekten, Matthew McConnaughey spielt auch ganz gut, Ken Watanabe sehen wir uns als Ken-Watanabe-Fangirls und -boys generell gern an und Naomi Watts, naja, macht ihr Ding. Kann man gucken, unser Fall war es nicht unbedingt, Zeit verschwendet haben wir aber auch nicht. Wenn der Film eines schafft, dann ist es, dass man sich über Selbstmord (in Japan) und den beeindruckenden Wald informiert und unterhält. Von daher: Pädikat ‚interessant‘.
Fischpott Disclaimer: Wir haben ein Rezensionsexemplar der Blu-ray von der Agentur Voll:Kontakt erhalten.
- Könnt ihr hier schauen, es lohnt sich: https://www.vice.com/de/article/japans-selbstmordwald ↩
- Details zum Wald hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Aokigahara ↩
- Platz 8 und doppelt so hoch wie in Deutschland: Suizidrate nach Ländern in der Wikipedia ↩
- Infos hier: http://bit.ly/2jL0vjq und der Aokigahara wurde dort auch erwähnt: http://bit.ly/2jis6F8 ↩
- Kurzer Artikel dazu: http://www.n-tv.de/panorama/Japan-untersucht-Tod-durch-Ueberarbeitung-article18806626.html ↩
- Haben wir Frauenfilm gesagt? Nein! Wir sind doch keine SexistInnen. Aber leider muss man (ganz wertungsfrei) zugeben: Die immobilienmakelnden, Long Bob-tragenden Joans da draußen, die einen Künstler, oder, noch schlimmer Geisteswissenschaftler (dabei ist Arthur sogar Physiker) durchfüttern, dann auch noch betrogen werden und sich gerne selbstmitleidig ihren Rotwein picheln, werden hier am ehesten auf ihre Kosten kommen. Der Film ist aber auch für viele andere Typen Mensch geeignet. Für Wanderinnen und Wanderer, beispielsweise, oder Ken Watanabe Fanboys und -girls. Und natürlich tendenziell für jeden, der sich für den legendären Selbstmordwald interessiert. ↩
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