Stonehearst Asylum
Ein gefeierter Regisseur verfilmt mit einem bis in die kleinste Nebenrolle hochkarätigen Cast einen der beliebtesten Autoren der letzten zwei Jahrhunderte. Wenn das Ergebnis nur sang- und klanglos für den Heimvideomarkt erscheint, kann einen das schon stutzig machen. Lohnt sich Brad Andersons Edgar Allan Poe-Verfilmung Stonehearst Asylum trotzdem oder sollte man lieber den Mantel des Schweigens darüber ausbreiten?
England in der letzten Woche des 19. Jahrhunderts: der junge Nervenarzt Dr. Edward Newgate (Jim Sturgess) bietet sich der Heilanstalt Stonehearst als Assistenzarzt an. Diese befindet sich natürlich fern von jeder Zivilisation zwischen nebligen Bergen und tiefen Schluchten in den Wäldern der hintersten Provinz. Entgegen dem Zeitgeist erprobt hier der Anstaltsleiter Dr. Lamb (Ben Kingsley) erstaunlich liberale Behandlungsmethoden. Anstatt die Patienten zu „heilen“, soll ihnen dabei geholfen werden, mit ihren Zuständen möglichst glücklich zu leben. Musterbeispiel für Lambs Methode ist die „Hysterikerin“ Eliza Graves (Kate Beckinsale), an der Newgate ein zunehmend rätselhaftes Interesse hegt. Nach einem gemeinsamen Abendessen, bei dem die Grenzen zwischen Personal und Patienten zunehmend verwischen, erkennt Newgate, was Kenner der Vorlage bereits wissen: schon vor Wochen haben die Insassen die Anstalt übernommen und den eigentlichen Anstaltsleiter Dr. Salt (Michael Caine) und seine Mitarbeiter und Angestellten in den Keller gesperrt, wo sie langsam verwahrlosen. Neben den für diese Situation genre-üblichen Problemen – Wie an den Schlüssel kommen? Wie die Überzahl der Insassen überwältigen? Wie Hilfe holen? – ergibt sich für Newgate ein weitaus größeres Dilemma: Lamb mag psychisch krank sein, seine Leitung der Anstalt ist jedoch durchaus funktionsfähig und weitaus menschenwürdiger als das sadistische System, zu dem der befreite Dr. Salt zurückkehren würde. Ein Belassen der Zustände kommt wiederum nicht in Frage, da das Asylum so von der Außenwelt abgeschottet bleibt und bereits die Vorräte bedenklich schrumpfen. Zudem gehört zu Lambs Stab auch der gewalttätige Mörder Finn (David Thewlis), der für Newgate und Eliza Graves eine ernste Bedrohung wird.
Wer von Stonehearst Asylum einen Geniestreich wie Andersons The Machinist oder Session 9 erwartet, dürfte enttäuscht werden. Stattdessen macht der Film es sich bequem in seinem Genre und setzt auf neblige Natur, alte Gemäuer, Suspense und kleine, aber effektvolle Twists. Das tut der jedoch äußerst solide und charmant. Vor allem aber nimmt er seine Vorlage ernst – was bei Poe leider nur selten der Fall ist. Dessen The System of Doctor Tarr and Professor Fether, auf dem Stonehearst Asylum basiert, war in den 1840ern politisch durchaus brisant. Die Geschichte von dem Wechsel der „Irren“ und „Normalen“ war seinerzeit Teil einer hitzigen Diskussion, ob sogenannte Geisteskranke wie Verbrecher eingesperrt oder wie Kranke behandelt werden müssten, bzw. wie viel Strenge und Zwang eine solche Behandlung benötige. Andersons Adaption überträgt diese Fragestellung auf heutige Diskussionen: die noch immer vorherrschende soziale Stigmatisierung von psychischen Krankheiten oder die Antipsychatrie-Bewegung in den USA – beides wiederkehrende Topoi in Andersons Filmen. Das wird umso wirksamer, da die Handlung in eine Zeit verlegt wird, welche Homosexualität und häufiges Masturbieren noch als schwere Krankheiten, sowie starke Persönlichkeiten bei Frauen als Hysterie versteht. Auch ist es wohl keine Zufall, dass die regulären, zeitgemäßen Methoden Dr. Salts vor allem Zwangsernährung und eine Form des Waterboardings beinhalten, während sich Lambs Krankheit als posttraumatisches Stresssyndrom in Folge seiner Erfahrungen als Militärarzt in Afghanistan erweist. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, wie leicht der Film diese Parallelen hinter der Form des klassischen Horrorfilms noch verbirgt, anstatt sie mit übertriebener Symbolik auch noch dem letzten Zuschauer unter die Nase zu reiben.
Stonehearst Asylum ist handwerklich solide, die Darsteller durchweg gut (vor allem David Thewlis und Ben Kingsley, dessen Leistungen zuletzt gerne schwankten) und zum Ende schafft die Geschichte es doch noch mit einem gut inszenierten Twist, manch andere Vorhersehbarkeit wiedergutzumachen. In einer besseren Welt wäre diesem Film wesentlich mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden: also Kaufen und die Kunde verbreiten!
Disclaimer: Fischpott hat ein Rezensionsexemplar der Blu-ray erhalten.