Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis
Newsflash aus der Finsternis
Kennt ihr das? Ihr sitzt behütet in eurer Wohnung, habt vielleicht etwas zu essen vor euch stehen und sehnt euch ein wenig nach Aufregung? Also Glotze an, irgendwas wird schon laufen. Zum Glück passieren die schlimmen Sachen in den Nachrichten immer nur den anderen. Und natürlich regt man sich auch auf, dass die Reporter offenbar immer mehr die Grenzen überschreiten: Traumatisierte Unfallopfer filmen, Angehörige bei Katastrophen daheim aufsuchen und im Schockzustand interviewen. Sowas gehört sich ja wirklich nicht. Aber auf die Nachrichten der Boulevardmagazine wollen wir dann doch nicht verzichten.
Oder?
Ein Beitrag von Ulf, mit Kommentaren von Cathy und Fabian
Nightcrawler ist die Geschichte von Louis Bloom. Als Kleinkrimineller schlägt er sich in Los Angeles mehr schlecht als recht durchs Leben. Metalldiebstahl (Kanaldeckel, Kabel, Zäune), auch mal ein Fahrrad, dabei immer nur kleine Summen in irgendwelchen Pawn-Shops kassieren und dabei auch direkt zu spüren kriegen, dass selbst der Hehler sich in der Hierarchie des Abschaums mindestens zwei bis drei Klassen über einem wähnt. Doch das soll sich bald ändern. Mehr zufällig wird Louis Zeuge, wie nach einem Autounfall zwei Polizisten die schwer verletzte Fahrerin aus einem brennenden Fahrzeug bergen, bedrängt von zwei Reportern, die offenbar den Polizeifunk abgehört haben und die Aufnahmen an den meistbietenden Sender verkaufen. Somit reift ein Plan: Eine Kamera und ein Polizeifunkscanner sind schnell besorgt und eine der ersten Aufnahmen hat immerhin genug Blut und Horror zur bieten, dass sie vom lokalen Sender KWLA für kleines Geld aufgekauft wird.
Schnell merkt Louis, dass er nur durch skrupelloses Verhalten auch entsprechendes Material erhält, außerdem braucht er einen Assistenten. Den findet er in Rick (Riz Ahmed), einen derzeit obdachlosen jungen Mann, den er für 30 Dollar die Nacht auf seine Raubzüge mitnimmt und der für die Navigation und später auch für die zweite Kamera zuständig ist. Das erste große Geld wird in einen wenig dezenten Dodge Challenger investiert – zugunsten schneller Tatortwechsel, sicherlich aber entgegen jeglicher Undercover-Diskretion. KWLA Chefin Nina (Rene Russo) macht dabei schnell klar, worum es ihr und den von ihr betreuten Morgennachrichten geht: Aufzuzeigen, dass sich Gewalt und Verbrechen von den Vorstädten und den Problemvierteln immer mehr in die besseren Wohngegenden ausbreiten.
Eines Tages wird Louis auf einen Raubüberfall in einer Villa aufmerksam und schafft es auch noch deutlich vor der Polizei am Tatort einzutreffen. Er filmt nicht nur die Täter, wie sie in dem Haus Schüsse abfeuern und danach fliehen, nein, er filmt auch noch den Tatort und die Leichen ab und hält Teile des Materials absichtlich zurück um die Täter auf eigene Faust aufzuspüren und ihre Festnahme quasi mit zu inszenieren.
Denn genau darum geht es bei den Nachrichten: Inszenierung von schrecklichen, schwer verdaulichen Bildern. So wie es Chefin Nina, die gewünschten Inhalte umreißend, pointiert formuliert: „A screaming woman running in the street with her throat cut“. Die Regie gibt den Moderatoren vor, wie sie zu kommentieren haben und das während der laufenden Sendung. Die Zuschauer müssen mit immer schlimmeren Taten bei Laune gehalten werden, Die Spannungs-Drahtseile werden immer wieder nachgezurrt. Und mit Louis hat man einen emotionslosen, schmierigen und nur auf seinen Vorteil bedachten Soziopathen an der Hand, der durch seine beherrschte Rücksichtslosigkeit besticht, die einem sehr schnell Angst machen wird. Es gibt Szenen in denen er sein Lebensmotto in Werbefilmmanier zum Besten gibt,1 und solche, in denen ihm vorgeworfen wird, dass man Freunde doch nicht erpresst – in jedem Fall merkt der Zuschauer schnell, dass Louis absolut keine Empathie empfinden kann, ja, sogar seine Körpersprache ist berechnend, sein Lächeln wie auf Knopfdruck eingeschaltet, ein Roboter, der nicht weiß was in seinen Mitmenschen vor sich geht und dem das auch (un-)herzlich egal ist, der ihre Körpersprache eher imitiert, statt sie intuitiv zu beherrschen. Jake Gyllenhaal spielt Louis Bloom dabei absolut überzeugend und beängstigend.
Beim Schauen des Films haben wir uns gefragt, ob die Nachrichten in den USA wirklich so laufen wie in Nightcrawler, ob es wirklich viele kleine Lokalsender gibt, die aus jeder Messerstecherei, jedem Unfall und jedem mehr oder weniger fiesem Verbrechen eine große Story machen. Ich lebe nicht in den USA und kann das überhaupt nicht beurteilen. Das ist so wie mit den explodierenden Autos in Filmen, nur weil es ständig gezeigt wird muss es nicht real sein. Dennoch glaube ich, dass die Medienlandschaft in den USA ähnlich funktioniert wie in Nightcrawler. Zum ersten Mal wurde mir das bewusst, als O.J. Simpsons Flucht im weißen Jeep live in der US-Glotze lief.
Dazu ein kurzer Exkurs: Ich habe mal über eine besonders sichere Mustersiedlung (Gated Communities) gelesen. Dort leben betuchte Leute, die ganze Siedlung ist umzäunt und man muss an einem Wachdienst vorbei um zu seiner Wohnung zu kommen, wenn man dort Freunde hat muss man eine Einladung vorzeigen und den dort lebenden Leuten wird sogar vorgeschrieben, wie ihre Gärten gepflegt sein müssen (nämlich perfekt). Diese Siedlungen, die ein bisschen an The Purge erinnern, wurden für reichere Leute der oberen Mittelschicht oder unteren Oberschicht geplant, die darin absolut sicher vor Verbrechen sein sollen. In einer Umfrage kam heraus, dass die Bewohner einer solchen Siedlung sich deutlich mehr Horrorfilme ausleihen und anschauen als Leute aus anderen Gegenden. Einfach deshalb, weil in ihrem Leben nichts aufregendes passiert und man sich so zumindest ein gewisses Maß an Nervenkitzel gefahrlos nach Hause holen kann. Genau diese Leute sind in gewisser Hinsicht die Zielgruppe von Sendern wie KWLA. Es wird gezeigt: Schaut her, es kann auch bei euch passieren. Ihr fühlt euch zwar sicher und seid es sicherlich auch, aber fühlt euch nicht zu hundert Prozent sicher. In gewisser Hinsicht würde man in einer Welt, in der Verbrechen abgeschafft wurde und de facto nichts passiert, unter Umständen Verbrechen nachstellen oder aus kleineren Vergehen eine große Story machen. Da die Zuschauer genau das wollen. 2
Das war bei der unsäglichen Berichterstattung über den Absturz der 4U9252 in den französischen Alpen ja auch nicht anders. Die meisten Leute die ich kenne, fanden die Methoden der Presse abstoßend. Dennoch scheint es für hohe Einschaltquoten, gut verkaufte Zeitungen und ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit gesorgt zu haben. Und genau so sorgt ein Film wie Nightcrawler sicher auch nicht unbedingt für Abschreckung sondern in erster Linie für Nervenkitzel beim Zuschauer. 3 Dazu kommt die absolut stilsichere Inszenierung mit atmosphärisch dichten Nachtaufnahmen, passender Musik und einer sehr intensiven Verfolgungsjagd gegen Ende des Films. Allerdings war schon beim Trailer klar, der Film steht und fällt mit der schauspielerischen Leistung von Jake Gyllenhaal. Und der macht seine Sache wirklich gut.
Wer einen atmosphärisch dichten Thriller sucht ist bei Nightcrawler somit genau richtig.
Geschaut haben wir im englischen Original, Bild und DTS-Ton gehen – passendes Equipment vorausgesetzt – voll in Ordnung, gerade der Ton war schön knackig abgemischt. Störend waren die ausschließlich für Hörgeschädigte vorliegenden deutschen Untertitel. Immerhin haben wir gelernt, dass es sehr viele verschiedene Arten von Musik gibt: Spannende Musik, abklingende Musik, geheimnisvolle Musik, nervöse Musik und erhabene Musik. Nee, im Ernst: Liebe Label, bitte nicht nur englischen Originalton sondern auch englische Untertitel beifügen. Und wenn es schon nur deutsche Untertitel gibt (aus Lizenzgründen oder so) dann nicht nur die für Hörgeschädigte. Kann doch nicht so schwer sein, oder?
Das Testmuster wurde uns freundlicherweise von Concorde Home Entertainment zur Verfügung gestellt.
- Fabians Kommentar: Und demonstriert, dass Nightcrawler auch eine amerikanische Erfolgsgeschichte ist. Bloom denkt groß, bückt sich hoch und hat all jene Weisheiten des Assessmentcenterdenkens verinnerlicht. Der Erfolg misst sich am eigenen Vorankommen, und wenn es über Leichen geht oder unterbezahlte Praktikanten eingestellt werden müssen. – „Who am I? I’m a hard worker. I set high goals and I’ve been told that I’m persistent.“ ↩
- Cathys Kommentar I: Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es natürlich auch Gated Communities in US-Städten gibt, in denen ein ‚zentrales‘ Wohnen tatsächlich lebensgefährlich werden kann – in Chicago, beispielsweise. Was aber auch Chicago als wohl gefährlichstes Pflaster der USA vorzuweisen hat, sind lauschige, sichere Suburbs. Hier steht auf Platz 1 der Verbrechen der letzten Monate Kaugummiklau im lokalen Supermarkt. Und genau hier setzt KWLA an: Verbrechen schleicht sich in die Vororte ein – dies ist der Lieblingsaufhänger des kleinen Boulevardmorgenmagazins, ein vermeintlicher Raubüberfall in denselben mit vermeintlich unschuldigen Opfern die goldene Gans. ↩
- Cathys Kommentar II: Abschreckend wirkt die Skrupellosigkeit Louis’ allemal. Die Parodie ist unverkennbar in der nüchternen Darstellung eines soziopathisch Veranlagten bei der Ausübung seiner endlich gefundenen Berufung: Das Leid anderer Ausschlachten und für die danach lechzende, konsumierende Masse noch leidvoller aufbereiten. Und wie sie sich alle die Hände nach ihm reiben! Moral und Ethik, beides Werte, die Louis bewusst vernachlässigt, erweisen sich, auch wenn es keiner ausspricht, als genau die Sperre, die die Einschaltquoten niedrig hält. Also ist Louis’ Arbeit gefragt! Louis’ Perspektive ist durchgehend zentral im Film, keine Szene sehen wir ohne ihn, wir gehen mit ihm nach Hause, in sein kleines, spartanisches Apartment, das meiste Geschehen sehen wir im Gegenschuss mit Louis’ Reaktion. Und diese ist weit entfernt von Schrecken und Mitleid. Was wir sehen sind leuchtende Augen und Inspiration. Louis’ Verhalten bleibt unkommentiert. Es bleibt bei einer reinen Außenperspektive auf einen vollkommen unnachvollziehbaren Menschen. Motivation und Gedanken muss sich der Zuschauer fast ausschließlich durch dessen Verhalten erschließen. ‚Fast ausschließlich‘, denn äußerst gelungen bietet einem der Film auf der Audiospur eine instrumentale Vertonung der Gefühlswelt des Protagonisten. Anschwellende, euphorisierende Gitarrenriffs im Neil Young Stil tragen Louis bizarre Gefühlswelt nach außen, zum Zuschauer. Diese Verquickung aus neutraler Außenperspektive und emotional gefärbter Musik, die von Nacht dominierte Optik und das hervorragende Schauspiel von Jake Gyllenhaal machen Nightcrawler zu einem durchaus außergewöhnlichen Film. Ohne Frage: Einsame Soziopathen und diesen ähnliche Miesepeter (Dexter, House, Sherlock Holmes, True Detectives’ Rust Cohle), sind mega-in und funktionieren noch einwandfrei. Wer weiß, wann man auch die ‚über‘ hat. ↩
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